Jeany Chen über jüdische Flüchtlinge in Shanghai: "Große Hilfsbereitschaft"
Rund 20.000 europäische jüdische Flüchtlinge kamen während des Zweiten Weltkriegs nach Shanghai. Das besetzte China war arm, die Stimmung sehr fragil.
taz: Frau Chen, Sie haben englisch-, chinesisch- und deutschsprachige Zeitungen untersucht, die zwischen 1933 und 1945 in Shanghai erschienen sind. Was hat Sie am meisten überrascht?
Jeany Chen: Wie zeitnah die Menschen über Nazi-Deutschland informiert waren - und wie kritisch man war. Da kursierten Fragen wie: Ist Hitler ein Wolf im Schafspelz? Oder: Wie weit wird die Ausgrenzung der jüdischen Menschen gehen?
Wusste man auch, dass insgesamt 25.000 deutsche Juden nach Shanghai fliehen würden?
Dass Shanghai zum größten Exilort werden sollte, dürfte niemand geahnt haben. In den Zeitungen wurde aber sehr ausführlich über die schrittweise Verfolgung der jüdischen Menschen berichtet. Nach der Reichspogromnacht 1938 fragten Journalisten schon, wie viele Menschen noch kommen würden.
Wie war die Stimmung?
Die Zeitungen schrieben, dass Schiffe mit vielen Flüchtlingen unterwegs waren. Sie taten das ohne negativen Tonfall. Bei den Recherchen gewann ich den Eindruck, dass man wusste, dass Hilfe dringend nötig war. Über Massentötungen wurde schon 1941 berichtet. Daher gab es schon eine große Bereitschaft zu helfen.
Wie genau?
Die jüdischen Gemeinden, die schon lange in Shanghai bestanden, haben Hilfsorganisationen eingerichtet, um Versorgung und Unterkünfte zu organisieren. Da war die Stimmung sehr positiv, weil man ja wusste, vor welchem Hintergrund sie geflohen sind.
34, Sinologin, stammt aus Shanghai und lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Hamburg. Ihre Magisterarbeit hat sie über "Das jüdische Exil in Shanghai - Die Jahre 1933 bis 45 im Spiegel der Presse" geschrieben.
Spiegelte sich das in der Presse?
Ja. Es hieß oft, es kommt wieder ein Schiff, und wir freuen uns, den Menschen helfen zu können. Diese Euphorie nahm mit der Zeit etwas ab.
Ab wann?
Um 1939 herum. Da waren schon rund 15.000 Flüchtlinge in Shanghai, und die jüdischen Gemeinden sahen, dass die Mittel knapp wurden. Gleichzeitig tauchten Leserbriefe auf mit dem Tenor: "Wir wollen keine Flüchtlinge als Mieter".
War das ein Trend?
In den Zeitungen finden sich Briefe mit unterschiedlichen Aussagen. Einerseits hieß es, die Flüchtlinge bemühten sich um Arbeit, andererseits bezichtigte man sie des Hausierens und des Bettelns. Das war schon ein Stimmungsumschwung.
Aus Angst vor Überfremdung?
Nein, aus den Zeitungen geht hervor, dass vor allem die knapper werdenden Ressourcen die Situation belasteten. Lebensmittel, Wohnraum und Arbeit schwanden - eine Folge des japanisch-chinesischen Krieges, der 1937 ausgebrochen war.
Haben die Behörden den Flüchtlingen geholfen?
Die chinesische Souveränität war damals massiv beschnitten - und das nicht erst durch die japanische Besatzung. Schon infolge der Opiumkriege hatte die chinesische Regierung seit Mitte der 1840er Jahre kaum noch Einfluss auf die ökonomische und politische Entwicklung Shanghais. Das war ja auch der Grund dafür, dass man ohne Visum nach Shanghai reisen konnte.
Wie integriert waren die Flüchtlinge eigentlich?
Man lebte nebeneinander her. Die Flüchtlinge hatten große Mühe, sich einzugewöhnen. China war ihnen fremd. Denn in den 30er, 40er Jahren sah man Shanghai ja nicht wie heute. Man hatte entweder verquere romantische Bilder vom Orient oder Horrorszenarien von Opiumhöhlen im Kopf. Und dann kamen die Flüchtlinge an, sahen die vielen Menschen, die Hitze, und alles war ganz anders. Viele wussten nicht, dass man in China Obst und Gemüse stets abkochen muss, und bekamen Diphterie oder Cholera. Das war schon ein Aufeinanderprallen völlig fremder Welten. Große Konflikte gab es allerdings nicht.
Gab es Antisemitismus in Shanghai?
In der chinesischen Bevölkerung waren antisemitische Einstellungen nicht vorherrschend. In Shanghai gab es allerdings eine deutsche Gemeinde, die die Ernennung Hitlers feierte und mit NSDAP-Fahnen durch die Straßen marschierte.
Kam es zu Übergriffen seitens dieser Deutschen?
Angriffe sind nicht bekannt. Die Presse spiegelt einen sehr fragilen Burgfrieden wieder.
Wie standen die jüdischen Gemeinden den Flüchtlingen gegenüber?
Sie waren grundsätzlich hilfsbereit, aber dann geschockt, weil die Flüchtlinge mit wenig finanziellen Mittel ankamen. Nicht ohne Grund wird Shanghai das "Exil der kleinen Leute" genannt.
Wie haben die Flüchtlinge gewohnt?
Es gab Notunterkünfte beziehungsweise Camps, die Flüchtlingskomitees eingerichtet hatten. Wer Geld hatte, konnte in bessere Stadtteile ziehen.
Konnte man sich hocharbeiten?
Einige haben Cafés eröffnet, kleine Zeitungen gegründet oder andere Gewerbe aufgemacht.
Ab 1943 errichteten die Japaner ein Ghetto für die Flüchtlinge.
Als die Japaner am 18. Februar 1943 das Ghetto proklamierten, war das natürlich ein Thema. Es war ein eingezäuntes Gebiet, und wer es verlassen wollte, brauchte einen Transit-Pass. Und die Flüchtlinge selbst haben sich erneut verfolgt gefühlt.
Haben die Chinesen versucht, Juden davor zu bewahren?
Shanghai war ja besetzt. Beeindruckend ist, dass in der Presse, obwohl die Chinesen selbst litten, kein Bericht über offene Anfeindungen der jüdischen Flüchtlinge auftauchte.
Haben alle Flüchtlinge Shanghai nach 1945 verlassen?
Die meisten. Der Großteil ging in die USA und nach Israel. Sie hatten nie vor zu bleiben. Außerdem war die Situation 1945 in Shanghai bedrohlich: Der chinesisch-japanische Krieg war noch nicht zu Ende. Niemand wusste, was Mao und die Kommunistische Partei vorhatten.
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