Buch über Italiens Vulkane und Brüche: Italiens Bauch rumort
In „Eine Stimme aus der Tiefe“ spürt der italienische Autor Paolo Rumiz den vulkanisch-geologischen und politischen Frakturen seines Landes nach.

Ein langes nervtötendes Heulen, ein dumpfes Baritonbrummen aus der Tiefe, ein sanftes Säuseln. Der Reiseschriftsteller Paolo Rumiz hat sein Ohr auf den rumorenden Bauch Italiens gelegt und lädt zu einer akustischen Entdeckungsreise durch das wohl am wenigsten stabile Land Europas ein. Seismische Verwerfungen, unterirdische Flüsse, Vulkankrater, Karstquellen, Katakomben, Miasmen und Bradyseismen: Italien ist ein Land, „das nicht auf einer Bruchlinie steht, sondern eine Bruchlinie ist“, konstatiert Rumiz.
Ausgestattet mit einer geologischen Karte im Maßstab eins zu zwei Millionen und einem Sankt-Georg-Amulett folgt Rumiz seinem persönlichen Ariadnefaden durch das Reich des Minotaurus: Er reist entlang der seismischen Linie, die von Sizilien bis zu den Alpen reicht, erkundet Landschaften, Mythen und Bräuche, die sich mit und auf dem aktiven Untergrund der Halbinsel im Mittelmeer geformt haben.
Die Reise beginnt auf der Liparischen Insel Alicudi, wo Rumiz unter der Milchstraße schläft und von einem Donnern in c-Moll geweckt wird. Auf der windgebeutelten Insel Pantelleria fachsimpelt er mit einem Fischer über den besten Heiligen für Erdbebenschutz: Emygdius, Antonius, Hilarius, Rosalia oder doch Pater Pio? Auf Sizilien steigt er in alte Schwefelgruben hinab, Orte des Elends und der Ausbeutung, und notiert: „Keine Ahnung, wie die Menschen aus dem Norden auf die Idee kommen, der Süden sei von faulen Menschen bevölkert. Die ganze sizilianische Geschichte erzählt doch von harter Arbeit und Schmerz.“
Im Angesicht des Ätna erliegt der Reisende dem Zauber des Schrecklichen und übernachtet in der Cassabile-Schlucht: „Die Sterne begannen der Reihe nach zu leuchten, und bald wurde der Ausschnitt des Himmels zu einem Weg aus Licht. Das ursprüngliche Blau der Tümpel wurde silbern, dann leuchtend schwarz. Die bebende Erde ist mitunter herzzerreißend schön.“
Je länger man Paolo Rumiz auf seiner seismischen Reise folgt – von Catania, wo sich Einheimische noch heute darüber streiten, ob Mussolini 1928 wirklich eine Eruption verhindert habe, über die von den Leichen und Habseligkeiten ertrunkener Migranten angefüllte Meeresenge von Messina bis nach Kalabrien, das er als das wahre große Unterbewusste der nationalen Identität begreift – desto klarer wird: „Eine Stimme aus der Tiefe“ ist nicht nur ein Reisebuch auf den Spuren geologischer Geheimnisse, antiker griechischer Mythen und volkstümlicher Erzählungen. Es ist vor allem auch: eine Abrechnung mit einem Land, das seine multikulturellen Wurzeln verleugnet, seine ländlichen Regionen im Stich lässt und von den Bergen allmählich ins Tal und Richtung Meer rutscht. Und dabei die omnipräsente Gefahr von Erdbeben, Erdrutschen und Vulkanausbrüchen nach Kräften ignoriert.
Paolo Rumiz weist auf Studien hin, wonach in Ländern mit ausgeprägter Vetternwirtschaft Naturkatastrophen mehr Opfer fordern – Italien steht nach Haiti, Indonesien und der Türkei auf Platz vier der traurigen Rangliste. Mal werden Gelder für den Erdbebenschutz eingefroren, wie 1976 im Friaul, mal lassen sich Städte bewusst von der Liste erdbebengefährdeter Orte streichen, um den Tourismus und das Bauwesen nicht zu stören. Mit gravierenden Folgen, wie Pablo Rumiz nach einem Besuch im erdbebenverwüsteten L’Aquila in den Abruzzen, das seit 2009 einer seelenlosen Sperrzone gleicht, beobachtet und bitter notiert: „In keinem entwickelten Land hätte ein Erdbeben der Stärke 5,9 derart viele Tote verursacht. Keine Nation lässt sich derart hintergehen und fragt sich träge, wie man Erdbeben vorhersagen kann, anstatt sich mit einer guten, gesetzmäßigen Bauweise davor zu schützen.“
„Eine Stimme aus der Tiefe“, ausgezeichnet mit dem diesjährigen International Travel Book Award, ist ein poetischer, anekdotenreicher und überaus lehrreicher Reisebegleiter für diejenigen, die auf Sizilien („a-Moll“) oder in Neapel („g-Dur“) urlauben oder an der Adria baden –unter sich sämtliche Hohlräume, Nahtstellen und Brüche, die Italien zu einem ebenso wunderschönen wie beängstigenden Land machen.
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