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Istanbuler Prozess um „Familienehre“Freispruch für Mord an Hatun Sürücü

Die beiden in der Türkei angeklagten Männer sollen ihren jüngeren Bruder zum Mord an der Schwester angestiftet haben. Nachweisbar war das nicht.

Der Mord an Hatun Sürücü bleibt unvergessen Foto: dpa

Istanbul dpa | Mehr als zwölf Jahre nach dem Mord an der Deutsch-Türkin Hatun Sürücü in Berlin sind zwei ihrer Brüder in der Türkei in allen Anklagepunkten freigesprochen worden. Das Gericht für schwere Straftaten in der Metropole Istanbul erklärte am Dienstag, man könne den 36 und 38 Jahre alten Angeklagten den Vorwurf der Beihilfe zur vorsätzlichen Tötung an ihrer Schwester nicht nachweisen.

Es seien „nicht genügend eindeutige und glaubhafte, klare Beweise gefunden werden können“, hieß es in der Begründung des Gerichts. Der ältere der beiden Angeklagten wurde zudem wegen Mangel an Beweisen vom Vorwurf des illegalen Waffenbesitzes freigesprochen.

Die Staatsanwaltschaft hatte den beiden Beschuldigten vorgeworfen, im Jahr 2005 den jüngsten Bruder – der in Deutschland seine Jugendstrafe bereits verbüßt hat und in Istanbul nicht angeklagt wurde – mit dem Mord an ihrer kleinen Schwester beauftragt zu haben. Das Ziel der beiden Angeklagten sei es gewesen, die Familienehre wieder herzustellen. Den ältesten der Bruder hatte sie zudem beschuldigt, die Tatwaffe besorgt zu haben. Für beide Angeklagten hatte die Staatsanwaltschaft lebenslange Haft gefordert.

Der jüngste Bruder hatte Hatun Sürücü im Februar 2005 an einer Bushaltestelle in Berlin erschossen. Dafür wurde er in Deutschland zu neuneinhalb Jahre Jugendstrafe verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe wurde er in die Türkei abgeschoben. Damals gab er zu Protokoll, den westlichen Lebensstil seiner Schwerster verachtet zu haben. Im Prozess gegen seine beiden älteren Brüder in Istanbul hatte er ausgesagt, die Tat allein begangen zu haben. Der Mord – begangen vermeintlich im Namen der Ehre – hatte 2005 viel Aufsehen erregt.

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1 Kommentar

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  • In patriarchalischen Gesellschaften, in denen Frauen als Besitztum ihrer männlichen Angehörigen angesehen und als Ware ausgetauscht werden können, dient die Gewaltanwendung und Ermordung im Namen der „Ehre“ der Aufrechterhaltung der Vormachtstellung des Mannes und insbesondere der Kontrolle der Sexualität der Frau. Bei einem von den patriarchalischen Normen abweichenden Verhalten wird die Frau als eines Verbrechens schuldig angesehen. Der Mann genießt als Opfer das Mitleid der Gesellschaft, da er den Verlust seiner „Ehre“ erlitten hat.

     

    Welches Verhalten „die Ehre verletzt“, ist in jeder betroffenen Gesellschaft etwas anders definiert. Die Gründe für Ehrenmorde sind vielfältig.

     

    Eine Frau kann die Ehre der Familie verletzen,

     

    indem sie sich weigert, den von der Familie ausgesuchten Mann zu heiraten,

    wenn sie sich von ihrem Mann, der sie vielleicht misshandelt, scheiden lassen will,

    wenn sie eine außereheliche Beziehung zu einem Mann führt,

    wenn sie außerehelich schwanger wird,

    wenn sie vergewaltigt wird,

    wenn sie Opfer von Inzest wird

    etc.

     

    Wo geschehen Ehrenmorde?

     

    In nahezu allen Teilen der Welt und in allen soziokulturellen Milieus wird Mädchen und Frauen jeden Alters im Namen der „Ehre“ Gewalt angetan. Jährlich werden nach einer Studie des UN-Weltbevölkerungsberichts rund 5000 Mädchen und Frauen in mindestens 14 Ländern im Namen der „Ehre“ ermordet. Die Dunkelziffer ist allerdings sehr viel höher, weil die wenigsten Fälle vor Gericht gebracht werden. Häufig wird der Mord als Unfall oder Selbstmord getarnt oder die Frauen werden gezwungen Selbstmord zu begehen.

    https://www.amnesty.de/verbrechen-im-namen-der-ehre-ehrenmorde