Prozessauftakt Mord an Hatun Sürücü: Der Hass einer Familie
Die Familie der Getöteten Hatun Sürücü gibt sich selbstsicher. Die Beweislage ist kompliziert. Im April soll die entscheidende Zeugin aussagen.
Deshalb dürfte Mutlu Sürücü nicht ganz unrecht haben, was den jetzt begonnenen Prozess in Istanbul angeht. Ohne stetiges Drängen aus Deutschland, ohne das anhaltende Interesse der deutschen Öffentlichkeit hätte sich die türkische Justiz wohl nicht mehr bereit gefunden, ein Verfahren gegen die beiden Brüder zu eröffnen.
Denn sie waren ja schon einmal, wie ihre Anwältin gestern wiederholt betonte, von einem deutschen Gericht freigesprochen worden. Erst in einer späteren Revisionsentscheidung hatte der Bundesgerichtshof wegen Mängeln in der Beweiserhebung die Freisprüche aufgehoben. Zu einer erneuten Verhandlung in Deutschland kam es dann nicht mehr, weil die Familie Sürücü mittlerweile in die Türkei zurückgekehrt war.
Hier passierte denn auch erst einmal lange Zeit nichts. Die Brüder wähnten sich in Sicherheit, Ayhan, der wegen Mordes an seiner Schwester verurteilt worden war und nach Verbüßung der Haft ebenfalls in die Türkei abgeschoben wurde, sagte sogar, er fühlte sich erst in der Türkei wieder richtig frei. Nach Informationen des rbb lebt er seitdem im Haus seines älteren Bruders Mutlu in Istanbul und betreibt einen Köfte-Imbiss.
Brüder als Zeugen befragt
Warum die türkische Justiz nach den Aufforderungen der deutschen Behörden, die beiden Brüder auszuliefern oder ihnen selbst den Prozess zu machen, zunächst gar nicht reagierten und nun, fast sieben Jahre später, doch noch ein Verfahren eröffnet hat, ist offiziell unklar. Man kann nur mutmaßen, dass die Verbesserungen in den deutsch-türkischen Beziehungen dazu geführt haben, dass sich Ende 2013 ein Staatsanwalt der deutschen Akten angenommen hat und eine Anklage formulierte, die dann im Oktober 2015 vom Istanbuler Gericht für schwere Straftaten akzeptiert wurde.
Viele der Prozessbesucher, die am Dienstag extra aus Deutschland angereist waren, hatten befürchtet, der Prozesstag würde ausfallen, weil die beiden Beschuldigten Mutlu und Alpaslan Sürücü erst gar nicht vor Gericht erscheinen würden. Doch es kam anders. Als der Prozess mit einiger Verspätung begann, saßen beide auf der Anklagebank. Und nicht nur sie. Auch Ayhan Sürücü, der den Mord ausgeführt hatte, und der älteste Sürücü-Bruder Emre waren anwesend und wurden als Zeugen befragt.
Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Sürücü-Brüdern Alpaslan und Mutlu vor, einen nahen Verwandten (also die Schwester) vorsätzlich getötet zu haben und fordert für beide lebenslange Haft. Beide sollen ihren jüngeren Bruder Ayhan gedrängt haben, die Schwester zu töten, Mutlu soll die Pistole beschafft haben, mit der Ayhan dann schoss. Wie schon in dem Prozess 2005 in Berlin streiten beide Brüder eine Beteiligung an dem Mord an ihrer Schwester Hatun ab.
Der Zeuge Emre Sürücü, der zum Zeitpunkt des Mordes an seiner Schwester in Berlin wegen eines Rauschgiftdelikts im Gefängnis saß, versuchte am Dienstag den Eindruck zu erwecken, als hätte es für die Familie Sürücü auch nie ein Mordmotiv gegeben. „Wir sind eine moderne Familie“, sagte er. Gemeinschaftlich beschlossener Mord aus religiösen oder traditionellen Gründen sei deshalb ausgeschlossen. Er selbst sei als Sunnit so offen, dass er mit einer Alevitin verheiratet sei.
Gericht hinterfragt Aussagen nicht
Auch Ayhan Sürücü gab sich sehr selbstsicher und machte nicht den Eindruck, als bereue er den Mord an seiner Schwester. Die Familie habe damit nichts zu tun gehabt. Nur ihn habe der Lebenswandel der Schwester gestört. Was ihm leidtue, sei der Ärger, den seine Familie durch die deutschen Medien bekommen hätte, sagte er.
Das Gericht tat am Dienstag relativ wenig, um die Aussagen der Zeugen und der angeklagten Sürücü-Brüder zu hinterfragen. Zwar hakte der Staatsanwalt einige Mal nach, doch dürfte das für eine Verurteilung kaum reichen. Entscheidend wird sein, wie die nächste Zeugin auftritt. Für Ende April ist Melek geladen, die Frau, die schon in Berlin als Kronzeugin der Anklage auftrat. Melek war die Freundin von Ayhan Sürücü und berichtete im Berliner Prozess, wie ihr Freund ihr vom Familienbeschluss, Hatun zu töten, berichtet hatte.
Melek lebt seitdem in einem Zeugenschutzprogramm unter neuem Namen und in einem anderen Land. Ob sie im April persönlich nach Istanbul kommt, um dort gegen die Sürücü-Brüder auszusagen, ob sie per Video zugeschaltet wird oder ob lediglich das Gericht sie an einem neutralen Ort vernehmen wird, blieb unklar. Klar ist nur, dass von ihrer Aussage der Ausgang des Verfahrens abhängen wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken