Israels Pläne für Gaza: Wiederbesetzung nach 20 Jahren?
2005 zog Israel sich aus Gaza zurück. Während Befürworter und Gegner von damals streiten, schafft Netanjahu Fakten.

Der rechte Journalist Amit Segal etwa wird nicht müde, den Befürwortern jenes Abzugs ihre eigenen Worte von damals vorzuhalten. So zitiert er den 2014 verstorbenen Scharon: Die Räumung der Siedlungen in Gaza diene „Israel unter allen Umständen“. Oder Scharons Verteidigungsminister Schaul Mofas, der damals von einem „Rückgang der Terrorangiffe“ ausging. Oder Scharons Nachfolger Ehud Olmert, der den Gegnern des Abzugs vorgeworfen habe, sie sähen nur ewigen Terror, doch die Regierung garantiere eine Möglichkeit für Veränderung.
„Eines bleibt elementar“, schreibt Segal in einer der meistgelesenen Zeitungen des Landes, Israel Hayom. Die eine Gruppe von Israelis habe in Gaza damals „Raketen, Tunnel und Überfälle“ kommen sehen. Die andere habe sich „Ruhe, Entwicklung und internationale Investitionen in Gaza“ vorgestellt. Für ihn sei der Fall klar: „Die erste Gruppe hatte absolut recht.“ Und: Mit dem Gaza-Abzug 2005 sei der Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 nur eine Frage der Zeit gewesen.
Segals Position ist heute populär in Israel. Während die Armee den Gazastreifen bereits zu rund drei Viertel kontrolliert, halten derzeit mehr als die Hälfte der jüdischen Israelis eine erneute Besiedlung für eine gute Idee. Bald sollen laut Netanjahu auch die übrigen Gebiete erobert werden. Wo die auf engstem Raum ausharrenden rund 2 Millionen Palästinenser dann hin sollen, ist bisher unklar.
Die Angriffe nehmen zu
Netanjahu befeuerte jüngst in einem Interview erneut Spekulationen über eine geplante Vertreibung in andere Länder. „Öffnet eure Türen“, forderte er andere Staaten auf. Derzeit laufen offenbar Gespräche zwischen Israel und Südsüdan zur Vertreibung von Palästinensern aus Gaza.
Die Luftangriffe auf Gaza-Stadt nehmen schon zu, laut einem Hamas-Vertreter stoßen auch schon israelische Bodentruppen vereinzelt nach Gaza-Stadt vor. Allein am Mittwoch meldeten die Gesundheitsbehörden in Gaza 123 Tote bei israelischen Angriffen.
„Eine Wiederbesetzung von Gaza wäre ein absolut sinnloser Plan“, hält Dov Weisglass den Kritikern des Abzugs 2005 heute entgegen. Der frühere Berater von Scharon gilt als einer der Architekten des „Abkopplungsplans“. Worauf die Regierung Netanjahu zusteuere, sei ein Schritt zurück vor die Zeit der Oslo-Verträge der Neunzigerjahre, zurück zur Militärverwaltung der palästinensischen Bevölkerung, sagt der 78-Jährige am Telefon. Er lebt nördlich von Tel Aviv.
Weisglass hat als Anwalt mehrere Regierungschefs vertreten, darunter Jitzhak Rabin und Ehud Olmert. 2009 arbeitete er kurz für den damals neu gewählten Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
Israel habe Gaza de facto bereits eingenommen, sagt Weisglass. 86 Prozent des Gebiets stehen laut UNO entweder unter Evakuierungsanordnungen oder gelten als militärische Sperrzone. Von Verantwortung für die Versorgung der Menschen ist bisher wenig zu erkennen. Die humanitäre Lage wird immer schlimmer.
Im Jahr 2005 habe man das Gegenteil im Sinn gehabt, sagt Weisglass. Zwischen August und September 2005 wurden rund 8.000 jüdische Siedler aus 21 völkerrechtswidrigen Siedlungen im Gazastreifen geräumt. „Erstmals in ihrer Geschichte erhielten die Palästinenser die Kontrolle über den gesamten Gazastreifen“, sagt Weisglass.
Sehnen nach Ruhe
Er zählt auf, was ihm damals möglich schien: „Zusammen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde gab es große Pläne: einen Tiefwasserhafen etwa, die Eröffnung eines Flughafens bis hin zu einem Tunnel zwischen Gaza und dem Westjordanland.“ Die Palästinenser hätten damals funktionierende Institutionen aufbauen und den militanten Widerstand in den eigenen Reihen eindämmen können.
Mit seiner Sicht war Weisglass vor 20 Jahren in Israel nicht allein. Ein Kolumnist der linksliberalen Ha’aretz, Nehemia Schtrasler, träumte damals von palästinensischen Hummus- und Fischrestaurants in Gaza, die von israelischen Touristen profitieren würden.
Scharons „Abkopplungsplan“ stieß nach anfänglichem Widerstand bei vielen Israelis auf Unterstützung. Nach Jahren blutiger Selbstmordanschläge und israelischer Vergeltungsaktionen während der zweiten Intifada sehnte man sich nach Ruhe.
In Weisglass’ Erzählung klingt das so: Dem Hardliner und Siedlungsbefürworter Ariel Scharon sei klar gewesen, dass Israelis und Palästinenser je einen eigenen Staat bräuchten. Er habe erkannt, dass Gaza anders als das Westjordanland am Ende von künftigen Friedensverhandlungen an die Palästinenser gehen würde. „Damit war jeder Israeli, der für ein Gebiet stirbt, das nie zu Israel gehören wird, einer zu viel“, sagt der 78-Jährige. „Wenn es gut liefe, könnten wir im Anschluss über die ungelösten Fragen verhandeln, wie etwa den künftigen Status von Jerusalem“, sagt Weisglass. Am Ende hätte ein palästinensischer Staat stehen können.
Nur hatte Scharon die Entscheidung ohne die Palästinenser gefällt. Vor der Weltöffentlichkeit wurde der Schritt als großes Zugeständnis wahrgenommen. Zur ganzen Geschichte gehört aber auch, dass Israel den Palästinensern mitnichten ein souveränes Gaza überließ. Unter anderem die Kontrolle über den Luftraum und die Seegrenzen, den Personen- und Warenverkehr oder die Telekommunikationsnetze blieben ganz oder teilweise in der Hand Israels. Manche Rechtsexperten gehen deshalb davon aus, dass damit der völkerrechtliche Besatzungsstatus trotz Abzugs aufrechterhalten wurde.
Spaltung in zwei Lager
„Wir sind so weit gegangen, wie die Umstände es erlaubten“, sagt Weisglass. Nach den Anschlägen der zweiten Intifada habe man nicht von heute auf morgen alles hineinlassen können. „Auf Angriffe mussten wir reagieren, aber wir haben so moderat wie möglich reagiert, um die Autonomiebehörde nicht mehr als notwendig in ein Dilemma zu bringen.“
Was die Palästinensische Autonomiebehörde allerdings in ein Dilemma brachte, war die Tatsache, dass Scharon mehrere Ziele verfolgte. Zum einen unterstrich der Abzug das Scheitern des Oslo-Prozesses, mit dem auch viele Palästinenser Hoffnungen verbunden hatten. Die Botschaft: Mit den Palästinensern musste nicht mehr verhandelt werden. Zum anderen gab Israel zwar auch im nördlichen Westjordanland vier Siedlungen auf, baute dafür aber andere deutlich aus und untermauerte seine Ansprüche auf das Westjordanland. Die Palästinenser in Gaza und im Westjordanland spaltete der Schritt letztlich in zwei Lager. Kritiker werfen Scharon vor, genau das beabsichtigt zu haben.
2006 gewann die radikalislamische Hamas die Wahlen zum palästinensischen Legislativrat gegen die traditionell führende, säkulare Fatah. 2007 übernahm die Hamas nach einem blutigen Kampf die Macht in Gaza. Die Fatah unter Mahmud Abbas regierte weiter unter israelischer Besatzung im Westjordanland. Die Angriffe aus Gaza auf Israel nahmen zu, es folgte eine strikte Blockade des Küstenstreifens.
Leere Hülle, aber mit Chancen
Kritiker wie Segal unterschlagen Weisglass zufolge aber, dass seit 2009 fast ununterbrochen mit Netanjahu einer der ihren an der Spitze der Regierung steht. „Es war Netanjahu, der seit seinem Amtsantritt die Zusammenarbeit mit der Autonomiebehörde einstellte.“
Weisglass glaubt, die Palästinensische Autonomiebehörde habe auch heute noch eine Chance, die Hamas aus Gaza zu verdrängen. „Natürlich ist sie in ihrem jetzigen Zustand eine leere Hülle“, sagt er. Ihr als rechtmäßiger palästinensischer Vertretung dennoch formal die Autorität über Gaza zu übertragen, würde die Türe öffnen für einen Nachkriegsplan. Dann könnten arabische Länder bewaffnete Kräfte im Auftrag der Behörde schicken. „Die Hamas hat weder die Mittel noch ein Interesse, Nachkriegs-Gaza wiederaufzubauen. Ich bin mir sicher, die Gruppe würde, konfrontiert mit so einem Vorschlag, den Gazastreifen verlassen. Der Krieg hätte so vor Monaten enden können.“
Netanjahu indes scheint sich zunehmend auf ein neues Ziel zu verlegen: die Besetzung Gazas – ohne seine Bevölkerung.
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