Israelische Hamas-Geiseln: Wann kommen sie heim?
Avichai Brodutch wartet. Der Familienvater hofft, dass seine Frau und seine drei Kinder unter den freigelassenen Geiseln der Hamas sind.
Als Avichai Brodutch in der Nacht zu Mittwoch wie so oft seit dem 7. Oktober aufwacht, liest er auf seinem Telefon die Nachricht: Israels Regierung hat nach fast sieben Wochen Krieg einer mehrtägigen Waffenruhe zugestimmt. Im Gegenzug soll die Hamas mindestens 50 nach Gaza entführte Geiseln freilassen. „Rational wollte ich nicht zu sehr hoffen, aber emotional bin ich seitdem high“, sagt der 42-Jährige. Seine Frau und seine drei Kinder im Alter von zehn, acht und vier Jahren waren bei dem Überfall am „Schwarzen Samstag“ aus dem Kibbuz Kfar Asa verschleppt worden.
Am Freitagnachmittag wurden 13 israelische Geiseln und zwölf thailändische Geiseln freigelassen. Ob die Familie von Brodutch unter den freigelassenen Geiseln ist, war bis Redaktionsschluss nicht bekannt.
Am Mittwoch zuvor sitzt Brodutch in einem Garten in einem Kibbuz im Zentrum Israels, wo viele ehemalige Bewohner aus Kfar Asa aufgenommen wurden. Wenn alles kommt, wie er es sich vorstellt, wird er Hagar, Ofri, Yuval und Uriah in die Arme schließen. Er wird ihnen sagen, dass er sie nie mehr verlassen wird. „Aber gerade weiß ich nicht einmal, ob sie auf der Liste derer stehen, die die Hamas freilassen will.“
Hinter ihm liegt eine „emotionale Achterbahn“, erzählt Brodutch. Er hat das Warten nach dem 7. Oktober nicht lange ertragen. Eine Woche nach dem Angriff fuhr er mitten in der Nacht aus der ruhigen Idylle des Kibbuz nach Tel Aviv und setzte sich mit einem Plastikstuhl vor das israelische Verteidigungsministerium. Zu einem Zeitpunkt, als israelische Politiker vor allem von der Zerstörung der Hamas sprachen, wollte er dem Schicksal der Geiseln Gehör verschaffen. Auf seinem Schild stand: „Meine Familie ist in Gaza“.
Ob die Hamas 240 oder 200 Geiseln hat, ist für sie egal
In den Wochen darauf schlossen sich seiner Mahnwache hunderte Angehörige von Entführten an. Sie verband die einfache Forderung, die Befreiung ihrer Liebsten müsse noch vor dem Kampf gegen die Hamas Priorität haben. Brodutch sprach mit Ministern und Journalisten, reiste in die USA und nach Deutschland, um für ihre Freilassung zu kämpfen. Am vergangenen Wochenende gingen zehntausende Menschen auf die Straße, bei einem Protestmarsch der Angehörigen zum Haus von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Jerusalem.
Dass die israelische Regierung jetzt einem Deal zugestimmt hat, um zumindest einen Teil der rund 240 Verschleppten zu befreien, lag auch am massiven Druck seitens der Angehörigen, glaubt Gershon Baskin. Der 67-Jährige hat 2011 die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit aus der Gefangenschaft der Hamas verhandelt. Die jetzige Einigung rund sieben Wochen nach dem Hamas-Überfall sei ein Durchbruch.
Baskin war lange einer der wenigen Israelis mit inoffiziellen, dafür aber direkten Kontakten zu der militant islamistischen Gruppe. 18 Jahre lang verband den Mann mit dem freundlichen Lächeln ein enger Kontakt mit Ghazi Hamad, dem früheren Vizeaußenminister der Hamas. Das Dankesschreiben für Shalits Befreiung von Netanjahu, der schon damals Ministerpräsident war, hat er über seinem Schreibtisch aufgehängt.
Diesmal aber gebe es zwei große Unterschiede, sagt Baskin, der selbst nicht an den Verhandlungen beteiligt ist: Gilad Shalit sei als einzelne Geisel von der Hamas während seiner mehr als fünfjährigen Gefangenschaft gut versorgt worden. Bei 240 Gefangenen zähle der einzelne Mensch für die Entführer weniger. „Ob die Hamas über 240 oder 200 Menschen verhandelt, macht für die Gruppe kaum einen Unterschied“, sagt Baskin.
Zweitens sei der größte Teil der offiziellen Hamas-Führung, die wohlhabend im Ausland lebten, irrelevant geworden. „Die Entscheidungen werden in den Tunneln unter Gaza von deren dortigem Anführer Jahja Sinwar und einem extrem eingestellten engsten Kreis getroffen, nicht in Doha oder Beirut“, glaubt Baskin. Zu diesem militärischen Flügel der Gruppe habe er trotz vieler Versuche nie einen Kontakt aufbauen können.
Ständiger Wechsel zwischen Hoffnung und Enttäuschung
Erst Ende Oktober gab es erstmals Fortschritte in den Verhandlungen. Am 20. Oktober wurden mit Judith und Natalie Raanan zwei Geiseln mit US-Staatsbürgerschaft freigelassen, wenige Tage später folgten zwei israelische Frauen.
In der Folge erhielten US-Vertreter über Vermittler in Katar und Ägypten Angebote. Die Hamas wollte im Austausch gegen palästinensische Gefangene und einen Aufschub der israelischen Bodenoffensive Frauen und Kinder freilassen. Doch die Verhandlungen gerieten ins Stocken. Die Hamas weigerte sich laut einem Bericht der New York Times, Beweise vorzulegen, dass die Geiseln noch am Leben seien. Israelische Soldaten rückten am 27. Oktober in den Norden des Küstenstreifens vor.
Am 14. November kam erneut Hoffnung auf. Netanjahu teilte US-Präsident Joe Biden am Telefon mit, das jüngste Angebot der Hamas annehmen zu können. Stunden später drangen Soldaten ins Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt ein, unter dem die israelische Führung eine Kommandozentrale der Terrorgruppe vermutet. Kurz darauf machte die Hamas den Vermittlern in Katar und Ägypten deutlich: Der Deal war geplatzt.
Der ständige Wechsel zwischen Hoffnung und Enttäuschung wurde für viele Angehörige noch unerträglicher, weil die wenigsten seit der Entführung ein Lebenszeichen erhalten haben. „Ich hoffe, dass sie sie gut behandeln und dass sie zusammen sind“, sagt Brodutch. Es gebe doch schließlich keinen Grund, eine Mutter von ihren Kindern zu trennen. Sicher sein kann er nicht.
Ihm helfe der Zuspruch von allen Seiten: von Angehörigen, Freunden, manchmal Wildfremden. Er habe sich eine solche Einigkeit und gegenseitige Unterstützung nicht vorstellen können. Er sei nie religiös gewesen, doch eine Einladung in eine Thoraschule, in der Tag und Nacht für das Schicksal seiner Familie gebetet werde, habe ihn berührt. Ebenso die Nachrichten seiner muslimischen Arbeitskollegen, die ebenfalls für die Rückkehr seiner Familie beten würden.
Der Krieg soll nach der Waffenruhe weitergehen
Erst der dritte Anlauf brachte am Mittwochmorgen den Durchbruch, maßgeblich von der US-Regierung forciert. Israel war zu diesem Zeitpunkt sowohl innenpolitisch wie international unter Druck geraten. Die Eroberung weiter Teile des nördlichen Gazastreifens hatte nur eine Geisel lebend zurückbringen können.
Zugleich nahm international angesichts der katastrophalen humanitären Situation und der tausenden getöteten Zivilisten in Gaza die Akzeptanz für das Vorgehen der Armee ab. Bei einer Ausdehnung der Angriffe auf den Süden dürfte die Zahl der zivilen Opfer massiv steigen.
Derzeit drängen sich dort auf engstem Raum rund 1,7 Millionen Binnenvertriebene. Es fehlt an Nahrung, Wasser, Medikamenten und Strom. Nur noch zehn von 36 Krankenhäusern funktionieren. Seit dem Beginn der Waffenruhe am Freitagmorgen rollen nun Lastwagen mit Hilfslieferungen in den Küstenstreifen.
Avichai Brodutch, Angehöriger israelischer Geiseln
Klar ist: der Krieg geht weiter. Letztlich bleibt für die israelische Führung das Ziel die Zerstörung der Hamas. „Wir haben keine Zukunft, wenn wir es nicht tun“, schrieb Netanjahu am Donnerstagabend bei X, früher Twitter. Die Hamas kann die Pause im Gegenzug für die Freilassung von je zehn weiteren Gefangenen um jeweils einen Tag verlängern. Maximal will Israel jedoch zehn Tage einräumen, bis die Angriffe fortgesetzt werden.
Die Waffenruhe war am Donnerstag noch einmal verschoben worden. Bis kurz vor dem neuen Termin am Freitagmorgen um sieben Uhr wurden aus Gaza weiter Kämpfe und Luftangriffe gemeldet. Bis zum Redaktionsschluss am Freitag aber hielt die Waffenruhe.
Wie umgehen mit den freigelassenen Geiseln?
Das Protokoll sieht eine Übergabe an die israelische Armee am ägyptischen Grenzübergang Rafah vor. Von dort sollen die Freigelassenen in sechs israelischen Krankenhäusern erstversorgt und untersucht werden, bevor sie zu ihren Angehörigen gebracht werden.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Für den Umgang wurde eine Reihe von Regeln zum Schutz der Befreiten erlassen. So wurden Richtlinien an Soldaten ausgegeben, etwa Kinder und Erwachsene nur mit deren Einverständnis zu berühren. Wenn Kinder nach ihren Eltern oder Angehörigen fragen, sollen die Soldaten antworten: „Wir bringen dich an einen sicheren Ort, wo alle deine Fragen beantwortet werden.“
Untersuchungen auf Folter und sexuelle Gewalt während der Gefangenschaft sollen stattfinden, soweit dies ohne eine Retraumatisierung möglich ist. Im Gegenzug will Israel insgesamt rund 150 palästinensische Frauen und Jugendliche aus Gefängnissen entlassen.
Für Brodutch ist klar: Selbst wenn er seine Familie in den kommenden Tagen wieder in den Armen halten kann, geht der Kampf um die übrigen Geiseln weiter: „Es sind auch dann noch mehr als 150 Verschleppte in Gaza. Bevor nicht alle frei sind, ist es auch für mich nicht vorbei.“ Die Aufarbeitung dessen, was jeder in seiner Familie seit dem 7. Oktober erlebt habe, werde wohl den Rest seines Lebens dauern.
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