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Israel und das Corona-VirusIm Schatten der Pandemie

Judith Poppe
Kommentar von Judith Poppe

In Israel sind die Ultraorthodoxen seit Langem das Zünglein an der Waage. Mit ihrer Haltung zu Corona haben sie sich nun ins Abseits gestellt.

Protest gegen den Premier Netanjahu am Samstag in Tel Aviv. Seine Corona-Politik schafft Unmut Foto: reuters

W ie hältst du's mit den Ultraorthodoxen?“ – traditionell reagieren diejenigen, die in Israel Regierungschef werden wollen, ausweichend. Der Opportunismus in Bezug auf die ultraorthodoxen Parteien kommt jetzt in der Coronakrise wie ein Bumerang auf das Land zurück.

Die Ultraorthodoxen sind bei der Regierungsbildung immer wieder das Zünglein an der Waage. Dadurch hat die Minderheit der Haredim – der Gottesfürchtigen, wie sie sich selbst nennen – enormen politischen Einfluss. Sie sind derzeit die zuverlässigsten Koalitionspartner von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Regierungsbildung gegen Privilegien, so lautet der Deal immer wieder.

Kurz nach der Staatsgründung befreite der damalige Ministerpräsident David Ben-Gurion die Haredim schon vom Wehrdienst. Er wollte so die Unterstützung ultraorthodoxer Rabbiner für den neuen Staat gewinnen. Damals betraf die Entscheidung nur einige Hundert Ultraorthodoxe. Doch die Ausnahme gilt bis heute, auch wenn die Haredim mittlerweile 12 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Unter den säkularen Israelis sorgt dies für Unmut. Auch dass viele der Haredim den Staat zwar nicht als Autorität anerkennen, aber ihre vom Rest der Gesellschaft abgeschnittenen Gemeinden von Steuergeldern finanziert werden und selbst selten arbeiten gehen und Steuern zahlen. Es sind zwei unterschiedliche Welten, doch was nicht passt, wird passend gemacht – so könnte man das Motto der Regierungschefs bezeichnen, die mit den Ultraorthodoxen in einer Koalition sitzen.

Säkularer Unmut

Doch ob dies noch in der Zukunft gelten kann, ist seit Corona fraglich: Denn aus Unmut vonseiten der Säkularen ist in der Krise mitunter blanker Hass geworden. Viele haben das Gefühl, wegen der Ultraorthodoxen erneut im Lockdown zu sitzen, und fürchten um ihre ökonomische Existenzgrundlage. Denn Netanjahu hatte im vergangenen Monat auf Druck der strenggläubigen Communitys den Ampelplan des Coronabeauftragen Ronni Gamzu zurückgewiesen. Gamzus Plan hätte lediglich die Corona-Hotspots abgeriegelt, die meisten von ihnen sind ultraorthodox geprägt. Stattdessen wurde kurz darauf landesweit der Lockdown verhängt. Doch nicht nur dies: Von den Ultraorthodoxen geht für viele die Gefahr einer Ansteckung aus.

40 Prozent der mit Corona Infizierten in Israel sind Ultraorthodoxe. Die Infektionsrate ist damit fünfmal höher als im Rest der Bevölkerung. Das liegt an der höheren Bevölkerungsdichte und an der vorhandenen Armut. Teilweise haben sich die Strenggläubigen aber auch nicht an die Regeln der sozialen Distanz gehalten.

September und Oktober ist die Zeit zahlreicher jüdischer Feste. Angesichts der Infektionszahlen, denen Israel gegenüberstand, war es gerade für diese Zeit entscheidend, mit den Lockdown-Regelungen vor allem große Veranstaltungen, wie sie in religiösen Kreisen zu den Feiertagen üblich sind, zu verhindern.

Illegale Massenveranstaltungen

Stattdessen gab es jeden Tag neue Medienberichte über illegale Massenveranstaltungen von Ultraorthodoxen, die von der Polizei nicht aufgelöst wurden: 4.000 Gläubige sollen danach vor drei Wochen zum Feiertag Rosch ha-Schana ungestört in der Belz-Synagoge in Jerusalem gebetet und gesungen haben. Zu der Beerdigung von Rabbi Mordechai Leifer, der an Komplikationen von Covid-19 gestorben war, versammelten sich Tausende von Männern Schulter an Schulter.

Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete zuletzt von einer Reihe von Vereinbarungen zwischen radikalen haredischen Gruppierungen in Jerusalem und der Polizei. Die Polizei soll den Ultraorthodoxen erlaubt haben, Massenversammlungen abzuhalten, solange diese in keiner Weise dokumentiert und öffentlich gemacht würden – und zudem in Innenräumen abgehalten werden, damit sie vor der säkularen Öffentlichkeit verborgen bleiben.

Man muss differenzieren: Viele der Ultraorthodoxen sehen mittlerweile die Gefahren von Corona und halten sich dementsprechend an die Regelungen. Doch einige der radikalen Gruppierungen sind uneinsichtig. Auch sie fühlen sich existenziell bedroht – durch die Einschränkungen ihres Lebensstils. Denn im Zentrum ihres Lebens steht die religiöse Gemeinschaft, das kollektive Beten und das gemeinsame Lernen. Mitunter entlädt sich der Zorn auf die Staatsgewalt in physischer Gewalt.

Netanjahu unter Druck

Netanjahu sitzt gewissermaßen in der Zwickmühle. Die Wähler*innen seiner ultraorthodoxen Koalitionspartner sind maßgeblich für die hohen Infektionszahlen mitverantwortlich. Gleichzeitig kann der Premier es sich nicht erlauben, sie zu verprellen: Er ist in drei Korruptionsfällen angeklagt und hält mit allen Mitteln an seinem Amt fest, nicht zuletzt, um einen Aufenthalt im Gefängnis zu vermeiden.

Dem Zauberer, wie er in Israel mitunter genannt wird, könnten die Asse ausgegangen sein. Er hat sich in seiner Residenz verbunkert, hält kaum noch Fernsehansprachen, die er zu erfolgreicheren Zeiten so innig geliebt hat. Seine Umfragewerte befinden sich im Sturzflug: Während Umfragen im Mai Netanjahus Likud noch 41 Sitze im Parlament versprachen, sagen sie ihm nun lediglich 26 Sitze voraus.

Nicht nur die Demonstrant*innen, die seit Monaten überall im Land seinen Rücktritt fordern, haben ihm den Angstschweiß auf die Stirn getrieben. In Schwierigkeiten ist er vor allem wegen der Ultraorthodoxen. Die Frage „Wie hältst du's mit den Ultraorthodoxen?“ ist wegen des großen Zorns, den die Frommen auf sich gezogen haben, zur israelischen Gretchenfrage geworden. Das ist gut so. Es wird Zeit, dass Israel sich klar wird, welche Rolle Religion und die Strenggläubigen im Staat spielen sollen.

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