Israel startet Bodenoffensive in Gaza: 20 Tote in der ersten Nacht
Kurz nach der Waffenruhe eskaliert die Situation. Ein Tunnel, den radikale Islamisten Richtung Israel gegraben haben, gibt den Anstoß für den Einmarsch.
JERUSALEM taz/dpa/ap | Mit der israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen sinken die Hoffnungen auf einen bevorstehende Waffenruhe auf den Nullpunkt. Die Entscheidung über den Einmarsch, die die Regierung in Jerusalem, am späten Donnerstagabend fällte, steht in Zusammenhang mit der Entdeckung eines Tunnels, durch den 13 Hamas-Kämpfer am Morgen nach Israel zu gelangen versuchten. Die schwer bewaffneten Männer waren offenbar auf dem Weg zu einem Attentat. Mindestens einer der Männer soll bei der Bombardierung auf den Tunnel, durch den das Kommando zurück in den Gazastreifen flüchtete, getötet worden sein.
Die Bodenoffensive in der Nacht zum Freitag hat bereits 20 Todesopfer gefordert. 19 Palästinenser wurden nach Angaben der Rettungsbehörden in Gaza getötet. Erstmals seit Beginn der Offensive in dem Palästinensergebiet vor elf Tagen kam auch ein israelischer Soldat ums Leben. Die Armee teilte am Freitag mit, er sei bei Kämpfen im Norden des Gazastreifens getötet worden.
Wie der israelische Soldat zu Tode kam, war zunächst unklar. Der militärische Flügel der Hamas erklärte, er habe israelische Einheiten bei der Stadt Beit Lahija beschossen und Opfer verursacht. Nach israelischen Medienberichten könnte der Soldat jedoch versehentlich von eigenen Truppen getötet worden sein. Militärsprecher Moti Almos sagte im Armeeradio, die Umstände des Todes würden untersucht. Es habe in der Nacht einige „Friktionen“ gegeben.
Schon kurz nach Beginn der israelischen Bodenoffensive spielten sich vor Ort offenbar dramatische Szenen ab. „Jede Minute schlagen Panzergranaten ein“, sagte ein Vertreter der Sicherheitsbehörde im Gazastreifen. Das gesamte Küstengebiet stehe unter Beschuss. Vom Meer aus würde zudem auf Polizeiposten geschossen. Über dem Nachthimmel im Gazastreifen flackerten Feuer, dichter Rauch stieg auf. Krankenwagensirenen heulten.
Israels Nachrichtendienste vermuten, dass die islamischen Extremisten in Gaza noch weitere geheime Tunnel gegraben haben. Hauptaufgabe der Bodentruppen wird die Suche danach sein. Zum letzten Mal machten Soldaten Ende Juni fünf palästinensische Terroristen dingfest, die auch durch einen Tunnel nach Israel kamen.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat das israelische Militär angewiesen, sich auf eine „erhebliche Ausweitung“ der Bodenoffensive im Gazastreifen vorzubreiten. Die Regierung gab außerdem grünes Licht für die Mobilisierung von weiteren 18.000 Reservisten. Damit können nun insgesamt rund 65.000 Reservisten eingezogen werden.
Israels Sicherheitsapparat zurückgeworfen
Solange die Truppen nicht direkt vor Ort nach den unterirdischen Schleichwegen sucht, ist die Armee relativ machtlos, denn mit Messgeräten sind die Tunnel nicht auszumachen. Der palästinensische Gazastreifen galt mit der Errichtung der Trennanlagen, Mitte der 90er Jahre, als weitgehend hermetisch abgeriegelt. Die Perspektive auf das erneute Eindringen von Terroristen wirft Israels Sicherheitsapparat um Jahrzehnte zurück. Nur zu gut erinnern sich die Israelis noch an die Zeit der Bombenattentate auf Linienbusse und Straßenkaffees, vor allem in Tel Aviv und Jerusalem.
Noch am Donnerstag Nachmittag hatten BBC und Reuters euphorisch die Meldung über eine Einigung zwischen Israel und der Hamas berichtet, ab Freitag 6.00 Uhr früh die Waffen endgültig ruhen zu lassen. Hamas-Vertreter räumten indes nur „Fortschritte“ bei den Verhandlungen in Kairo ein. Die gestrige auf nur fünf Stunden festgelegte humanitäre Feuerpause hatte zuvor weitgehend ohne Brüche gehalten. Zigtausende Palästinenser nutzten die kurze Zeit, um ihre Vorräte aufzustocken, bevor beide Seiten die Kämpfe wieder aufnahmen.
An den Geldautomaten der Banken bildeten sich lange Schlangen, und zum ersten Mal seit Tagen lebte der Autoverkehr in den Straßen wieder auf. UN-Mitarbeiter verteilten Nahrungsmittel, Frischwasser und Toilettenartikel in den Flüchtlingslagern. Israel hatte auf Drängen des UN-Sonderkoordinators für den Nahost-Friedensprozess Robert Serry der befristeten Feuerpause zugestimmt.
Dem Appell Serrys war der tragische Tod von vier palästinensischen Jungen am Dienstag vorausgegangen, die am Strand von Gaza Fußball spielten, als die Bombardierungen begannen. Die vier Cousins waren von dem Beschuss offenbar regelrecht verfolgt worden. Mehrere Korrespondenten hatten das bittere Schauspiel von einem nahegelegenen Hotel aus beobachtet. Die Armee untersucht den Tod der Jungen. Israels Regierung äußerte Bedauern über den „tragischen“ Vorfall.
Pünktliche Angriffe
Von wenigen Mörsergranaten am Kontrollpunkt Erez abgesehen, hielten sich die Islamisten an die fünfstündige Feuerpause. Wahrscheinlich ist, dass nicht die Hamas die Granaten abgefeuert hatte, sondern eine andere Widerstandsgruppe. Zwei Minuten vor Ablauf der festgelegten Zeit heulten die Alarmsirenen in den israelischen Städten Ashkelon und Ashdod erneut auf.
Kurz darauf nahm auch Israels Luftwaffe, die sich zuvor strikt an die Feuerpause hielt, die Bombardierungen vor allem auf drei Ortschaften im nördlichen Gazastreifen mit Macht wieder auf. Nur gut 20.000 der über 100.000 palästinensischen Bewohner der fraglichen Region waren der Aufforderung der Armee nachgekommen, ihre Häuser zu verlassen.
Israelische Analysten rechnen mit einer weiteren Eskalation, bevor der Gazastreifen wieder zur Ruhe kommt. Bei den letzten beiden kriegsähnlichen Kampfrunden vor zweieinhalb und gut fünf Jahren intensivierten die Islamisten kurz vor Ende noch einmal deutlich die Angriffe auf Israel. Ohne Angabe von Gründen sperrten die israelischen Sicherheitsdienste am Donnerstagnachmittag mehrere Hauptstraßen im Süden Israels. Die Jerusalem Post schrieb über einen „nicht erklärten Sicherheitszwischenfall“. Die Armee verhängte eine Nachrichtensperre.
Denkbar ist, dass der Sicherheitsapparat einer von den Islamisten selbst gelegten falschen Spur nachging. Teil der aktuellen psychologischen Kriegsführung ist die Panikmache per SMS. „Selbstmordattentäter auf dem Weg nach Tel Aviv“, hieß es in einer dieser Falschmeldungen. In einer anderen SMS forderte der bewaffnete Arm der Hamas, Assedin al-Kassam in fehlerfreiem Englisch die „Bürger Israels“ auf, Druck auf die eigene Regierung zu machen, damit sie „unsere Bedingungen für einen Waffenstillstand akzeptiert“.
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