Die Knesset steuert mit voller Kraft in die Krise

Trotz Protesten, Streiks und Boykottaufrufen hat Israels Parlament den ersten Teil der umstrittenen Justizreform angenommen. Zuvor waren Kompromissversuche gescheitert

Von Jannis Hagmann

Man wüsste gern, was Netanjahus Arzt dem israelischen Regierungschef geraten hat. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es nicht das, was den 73-Jährigen am Montag erwartete, als er sich mit frisch eingesetztem Herzschrittmacher direkt aus dem Krankenhaus wieder in die israelische Politik stürzte. Vor dem Parlament in Jerusalem trieben Wasserwerfer Hunderte Demonstrierende auseinander, die dort kampiert hatten und nun den Eingang blockierten. Mehrere Personen wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert, erneut gab es Festnahmen.

Das eigentliche Drama aber spielte sich im Innern der Knesset ab. Am Nachmittag billigte das Parlament das erste Kernelement der seit Monaten umkämpften Justizreform. Zuvor war der Versuch gescheitert, in letzter Minute doch noch einen Kompromiss zu finden. „Mit dieser Regierung ist es unmöglich, Vereinbarungen zu treffen, die die israelische Demokratie bewahren“, so Oppositionsführer Jair Lapid.

Während andere Teile der anvisierten Justizreform derzeit eingefroren sind, geht es bei der am Montag verabschiedeten Gesetzesänderung um die sogenannte Angemessenheitsklausel. Diese hat dem obersten Gericht bislang die Möglichkeit gegeben, Entscheidungen von Regierungsmitgliedern und anderen Amtsträgern als „unangemessen“ einzustufen, wenn sie nach Meinung der Rich­te­r*in­nen nicht im Interesse der Allgemeinheit sind. Sobald die neue Regelung in Kraft tritt, heißt das: Wenn die Regierung eine umstrittene Personalie auf einen bestimmten Posten hieven will, wird die Justiz ihr nicht mehr so leicht dazwischenfunken können. Andere Wege der Kontrolle bleiben der Justiz allerdings offen.

„Der schwächste Regierungschef, den Israel je hatte“

Der israelische Analyst Anshel Pfeffer über Premier Netanjahu

Das oberste Gericht hatte zuletzt Anfang des Jahres von der Klausel Gebrauch gemacht: Es stufte die Ernennung von Arie Deri, des Vorsitzenden der Koalitionspartei Schas, zum Innenminister der damals neuen Netanjahu-Regierung als „unangemessen“ ein. Deri, ein loyaler Verbündeter Netanjahus, war in der Vergangenheit dreimal verurteilt worden, unter anderem wegen Steuerhinterziehung und Bestechung. Das Gericht entschied, dass er nicht geeignet sei, der Allgemeinheit „loyal und gesetzestreu zu dienen“. Nach der Gerichtsentscheidung musste der Regierungschef sich dem Druck beugen und Deri entlassen.

Die am Montag beschlossene Gesetzesänderung ist nur ein Teil der geplanten umfassenden Neugestaltung des israelischen Justizwesens und des Rechtsstaats. Die Reform soll die Justiz des Landes schwächen und im Gegenzug der Regierung und dem Parlament deutlich mehr Handlungsspielraum einräumen.

Während das Reformvorhaben das Land in eine schwere innenpolitische Krise gestürzt hat, scheint dem Regierungschef zunehmend die Kontrolle zu entgleiten. Nicht nur hat Netanjahu weite Teile der Bevölkerung gegen sich und seine Regierung aufgebracht. Auch rief ein Zusammenschluss von 150 großen israelischen Unternehmen einen Streik aus. Am Montag blieben einige Einkaufszentren, Tankstellen und Banken geschlossen. Außerdem – besonders heikel in einem kleinen, von außen bedrohten Staat wie Israel – haben Teile der Streitkräfte mit einem Boykott gedroht für den Fall, dass die Reform der Angemessenheitsklausel angenommen wird.

Aber auch innerhalb seiner eigenen Koalition scheint Netanjahu zunehmend der Getriebene zu sein. Der Minister für Nationale Sicherheit, der rechte Hardliner Itamar Ben-Gvir, hatte vor der Abstimmung am Montag erneut seine Muskeln spielen lassen: „Jeder Abstimmungskompromiss über das Angemessenheitsgesetz wäre eine Schande für den gesamten rechten Flügel“, sagte er. Israelische Medien berichteten am frühen Nachmittag unter Berufung auf Quellen in der Regierungskoalition, dass Ben-Gvir und Justizminister Jariv Levin sogar gedroht hatten, die Regierung platzen zu lassen, sollte die Gesetzesänderung abgeschwächt werden.

Freudiges Selfie nach der Abstimmung: Justizminister Levin (mit Handy) am Montag im Parlament in Jerusalem Foto: Maya Alleruzzo/ap

Ein Zerplatzen der Regierungskoalition inmitten des aktuellen Chaos könnte für den vielmaligen Regierungschef Netanjahu das endgültige politische Aus bedeuten. Netanjahu bekommt nun die Rechnung dafür präsentiert, dass er sein eigenes politisches Überleben (mit dem aufgrund eines Korruptionsprozesses auch persönliche Interessen verbunden sind) rechten Hardlinern in die Hände gelegt hat, die sich nun als unwillig erweisen, beim geplanten Umbau des Staates Kompromisse zu machen.

Der israelische Analyst Anshel Pfeffer äußerte am Montag, Netanjahu habe jeglichen Einfluss darauf verloren, wie „die verhängnisvollste innenpolitische Krise in Israels Geschichte“ ausgeht. „Er ist nun der schwächste Regierungschef, den Israel je hatte“, schreibt Pfeffer in der Tageszeitung Haaretz. „Benjamin Netanjahu ist irrelevant geworden.“