Islamwissenschaftlerin über Proteste in Iran: „Ein permanentes Gefühl der Angst“

Katajun Amirpur ist überrascht von der Revolte der iranischen Frauen. Ein Gespräch über theokratischen Terror, den Postislamismus und ihr neues Buch.

Straßenszene in Teheran, Frauen mit und ohne Kopftuch begegnen sich

Junge Menschen in Iran wollen mehrheitlich die islamistische Terrorherrschaft nicht mehr Foto: Rouzbeh Fouladi/ZUMA Wire/imago

wochentaz: Frau Amirpur, wo steht die Bewegung heute, sechs Monate nach dem Beginn der Proteste?

Katajun Amirpur: Damit das System zusammenbricht, dazu müssten sich wohl vor allem auch Teile der Revolutionsgarden vom Kampf gegen die eigene Bevölkerung abwenden. Allerdings ist dennoch nicht absehbar, wie genau sie sich in Zukunft verhalten werden.

geb. 1971, ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität zu Köln und publiziert regelmäßig in Zeitungen und Zeitschriften.

Was halten Sie von der aktuellen Forderung, die Revolutionsgarden auf die Terrorliste der EU zu setzen?

Das ist eine sehr komplexe Angelegenheit, bei der sehr differenziert Kosten und Nutzen abgewogen werden müssen. So besteht die Gefahr, dass eine Listung später von Gerichten als rechtswidrig eingestuft wird. Das wäre ein enormer Propagandaerfolg für das Regime, den es unbedingt zu vermeiden gilt.

Seit der Islamischen Revolution 1979 gab es immer wieder große Proteste: 2009 wegen manipulierter Wahlergebnisse, 2017/18 und 2019 vor allem anlässlich hoher Lebensmittel- und Benzinpreise. Hatten Sie eine massive Protestbewegung wie die aktuelle für möglich gehalten?

Katajun Amirpur: „Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat“. C. H. Beck, München 2023, 240 Seiten, 25 Euro

Be­ob­ach­te­r:in­nen haben immer darauf gewartet. Denn mindestens seit 2009 war immer spürbar: Es gibt eine große, kritische Masse, die gegen das Regime ist und Veränderung will. Doch dass nun so viele mutige Menschen seit sechs Monaten auf die Straße gehen, hat mich tatsächlich überrascht. Das ist eine andere Generation. Viele Ira­ne­r:in­nen erzählen, als junge Menschen hatten sie selbst nicht diesen Mut. Sobald die ersten Abschreckungsmaßnahmen kamen, haben sie aufgehört – und erst recht nicht zurückgeschlagen. Die Mädchen, die kürzlich das Tanzvideo veröffentlicht haben, wussten ja, dass sie mir ziemlicher Sicherheit im Gefängnis landen. Trotzdem stellen sie sich hin und machen deutlich: Wir geben nicht klein bei.

Wie erklären Sie sich, dass Protestierenden trotz aller Gefahr so offen protestieren?

Spätestens seit 1997 wurde versucht, das System von innen heraus zu reformieren. Man hat dem System sehr oft die Chance gegeben, sich zu wandeln in Richtung mehr Menschenrechte, mehr Demokratie und Teilhabe und eines weniger rigorosen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung. Doch selbst Minimalforderungen sind gescheitert. Gerade für junge Ira­ne­r:in­nen ist deswegen klar: Das radikale Bollwerk der Islamisten wird keine Zugeständnisse machen. 2009 hörte ich aus meiner eigenen Familie noch Aussagen wie: „Geht nicht auf die Straße, setzt euer Leben nicht aufs Spiel“ oder „Man kann vom Regen in die Traufe kommen wie wir damals 1979“. Heute hingegen verfängt so etwas kaum noch. Junge Menschen heute sind wütender und frustrierter. Für sie geht es einfach nicht mehr weiter – und daher ums Ganze.

Woher kommt die Heterogenität der Protestbewegung, die ja nicht nur jung, sondern auch sozial, ethnisch, religiös sehr divers ist?

Fast je­de:r wird im Iran auf die ein oder andere Art und Weise diskriminiert. Bis auf die wenigen, die vom System profitieren – und das sind nur 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung. Frauen sind Menschen zweiter Klasse. Die Kurden sowie die Menschen in der südostiranischen Provinz Sistan-Belutschistan werden als Sunniten ebenfalls systematisch benachteiligt, so dass es eigentlich „Schiitische Republik Iran“ heißen müsste. Homosexuelle können ihre sexuelle Orientierung nicht leben, weil sie sonst aufgehängt werden. Zudem spricht die Hälfte der Iraner nicht Persisch als Muttersprache, die sie dann aber nicht in der Schule lernen dürfen.

Sehr viele Ira­ne­r:in­nen haben also ähnliche Erfahrungen der Benachteiligung und Unterdrückung gemacht.

Der gewaltsame Tod vom Jina Mahsa Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei hat als Auslöser noch einen weiteren Punkt gestreift. Jeder Familie, und sogar denen, die verbandelt sind mit den Revolutionsgarden, wurde deutlich: Das hätte mir und meinen Verwandten auch passieren können. Denn Jina Mahsa Amini hatte ja gar nicht offen protestiert, so wie jene Frauen, die 2019 auf Stromkästen stiegen und ihr Kopftuch abnahmen und an einer Stange aufhängten. Nein, Jina Mahsa Amini war auf die Straße gegangen, weil sie dachte, ihr Kopftuch sitze in Ordnung. Aber selbst wenn man versucht, sich regelkonform zu verhalten, kann es einen treffen.

Totale Willkür.

Die Menschen im Iran leben in einem permanenten Gefühl der Bedrohung und Angst. Diese Atmosphäre wird systematisch geschürt. Gleichzeitig gehen im Iran unglaublich viele Dinge einfach durch. Ich denke an die Direktheit, mit der in der Öffentlichkeit auch mal über die Machthaber geschimpft werden kann. Oder etwa an die persischen Übersetzungen von Hannah Arendts Büchern, obwohl doch klar ist, wie lehrreich ihre Bücher sind für den Kampf gegen eine Diktatur. Aber letztlich ist dies alles Teil des Erratischen: Man weiß nicht genau, wann es einen trifft.

Eine ikonischer Teil der Proteste ist nicht nur das Abnehmen und Verbrennen von Kopftüchern, sondern auch das Abschneiden von Haaren. Was hat es damit auf sich?

Diese Geste kommt aus der vorislamischen Zeit. Man findet sie zuerst im Schāhnāme, dem Nationalepos der persischsprachigen Welt. Durch seine sprachbildende Kraft hat das sogenannte Königsbuch dazu beigetragen, dass die Ira­ne­r:in­nen bis heute Persisch sprechen und nicht wie andere islamisierte Völker Arabisch. In der Erzählung ist es Farangis, die sich nach dem unschuldigen Tod ihres Mannes, dem persischen Prinzen Siyawasch, aus Frust die Haare abschneidet.

Das Aufgreifen dieses Protest- und Trauerrituals lässt sich übrigens schon länger beobachten. Ohnehin besinnen sich viele ­Ira­ne­r:in­nen aus Protest gegen das System stärker auf die vorislamische Zeit. So etwa auf den Zoroastrismus als „eigentlicher Religion“ des Ira­n vor der arabisch-islamischen Eroberung Persiens (im 7. Jhd. n. u. Z., Anm. d. Red.). Selbst das Frühlingsfest Nouruz, das im Leben eines jeden Iraners wichtigen Stellenwert hat, ist ja ursprünglich zoroastrisch. Kurz nach der Revolution 1979 wurde sogar versucht, das Fest zu ­unterbinden. Doch das scheiterte.

Ist dies alles Ausdruck des Iran als „postislamistische Gesellschaft“, wie Sie es in ihrem Buch beschreiben?

Die Islamisierung der Gesellschaft in allen Sphären hat eine Bevölkerung geschaffen, die nicht nur sehr säkular eingestellt ist, sondern auch deutlich macht: Wenn das der angeblich reine Glaube ist, der für alles die Lösung sein soll, dann wollen wir den nicht. Vom iranischen Philosophen Abdolkarim Sorusch stammt der Satz, der Islam sei so tief verwurzelt im iranischen Volk, dass nur diese Revolution und das, was danach passiert ist, diese Wurzeln ausreißen konnte. Da ist etwas dran. Dennoch bleibt der Islam Teil des kulturellen Erbes des Iran. So kann jeder Iraner seinen Hafis rezitieren, und die gesamte klassische iranische Literatur wäre ohne den Islam nicht möglich. Nur wollen Umfragen zufolge über 83 Prozent der Ira­ne­r:in­nen den theokratischen Staat nicht.

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