Islamexperte über jugendliche Salafisten: „Dschihadisten ohne Koran“
Michael Kiefer hat die WhatsApp-Chats salafistischer Teenager ausgewertet: Mit dem Islam hatten ihre Anschlagspläne wenig zu tun.
taz: Herr Kiefer, Sie haben 5.757 WhatsApp-Nachrichten einer radikalisierten salafistischen Jugendgruppe analysiert – welche Erkenntnisse hat die Lektüre zutage befördert?
Michael Kiefer: Zum einen war überraschend, wie wenig Islamkenntnis die Jugendlichen haben. Man denkt ja, wenn eine Jugendgruppe sich selbst als dschihadistisch versteht, dass sie ideologisch gerüstet ist. Aber bei einigen Gruppenmitgliedern waren so gut wie gar keinen religiösen Kenntnisse vorhanden. Einer hatte gar keinen Koran, ein anderer wusste nicht so recht, wie man betet oder welche Kleidung man dazu anziehen muss. Ein Dschihadist ohne Koran, eigentlich irre. Eine andere Überraschung war, wie ungemein zielstrebig diese Gruppe ihre Pläne verfolgt hat.
Häufig heißt es, Dschihadismus sei eine radikalisierte Form des Islams. Das stimmt in diesem Fall nicht?
Nein, in diesem Fall stimmt das überhaupt nicht. Hier hat sich die Radikalität islamisiert. Diese Jugendlichen haben zum Islam ein funktionales, wenn nicht gar instrumentelles Verhältnis.
Das heißt, die hätten auch im schwarzen Block in Hamburg landen können?
Grundsätzlich ja. Aber natürlich sind sie in einem Milieu aufgewachsen, in dem eine islamistische Radikalisierung näher liegt. Aber das Interessante ist ja: Diese Gruppe hat gar keine Ideologie. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn sie darüber diskutiert, ob sie mit dieser Gesellschaft einen Schutzvertrag hat.
56, ist promovierter Politik- und Islamwissenschaftler und arbeitet am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück. Zudem ist er im Vorstand des Präventionsprojekts „Wegweiser“ in Düsseldorf.
Das heißt was?
Wenn man als Muslim in einem nichtislamischen Land lebt und dort seine Religion ausüben kann, wird das gewöhnlich als Vertrag verstanden, der die Muslime verpflichtet, sich dem Staat gegenüber als loyal zu erweisen. Die Jungs diskutieren also darüber, ob es legitim ist, in Deutschland Gewalt auszuüben. Da schwanken sie hin und her, aber ohne wirklich Ahnung zu haben, da werden wild irgendwelche Dinge eingeworfen, die sie gegoogelt oder gelesen haben: Ihr islamisches Weltbild ist wie eine Art Lego-Baustein-System, also hier ein gelber, dann ein roter, dann ein grüner Stein – je nach situativer Bedürfnislage. Es gibt auch keine kohärente politische Ideologie, sie wird jeweils den Bedürfnissen angepasst.
Der Chat: Ausgewertet wurden 5.757 Postings einer dschihadistischen WhatsApp-Gruppe, der zwölf junge Männer im Alter von 15 bis 35 angehörten, die meisten von ihnen Jugendliche. Zur Verfügung gestellt wurden die ausgedruckt mehr als 600 Seiten vom ARD-Fernsehmagazin „Report München“. Der Chat zeigt die Gruppendynamik unmittelbar vor einem Anschlag.
Der Anschlag: Die ForscherInnen machen keine konkreten Angaben zu der Tat. Aus Anspielungen in der Studie wird aber klar, dass es sich um den Anschlag auf den Sikh-Tempel in Essen im Frühjahr 2016 handelt. Zwei Menschen wurden dabei leicht, einer schwer verletzt. Drei 17-Jährige wurden inzwischen zu Jugendhaftstrafen zwischen sechs und sieben Jahren verurteilt.
Die WissenschaftlerInnen: Der Chat wurde von einem interdisziplinären Team des Forschungsnetzwerks Radikalisierung und Prävention ausgewertet. Es besteht aus WissenschaftlerInnen des Instituts für Islamische Theologie in Osnabrück und GewaltforscherInnen der Universität Bielefeld.
Das Buch: Die Studie ist unter dem Titel „Lasset uns in sha’a Allah ein Plan machen. Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-Gruppe“ im Springer VS Verlag erschienen.
Aber was ist dann ihre Motivation? Worum geht es?
Um Selbstermächtigung, Mannwerdung, darum, etwas darzustellen, anerkannt zu sein. Diese Chat-Gruppe diente ja auch einer ständige Bestätigung untereinander.
Dschihadismus als Bewältigung des Erwachsenwerdens?
Absolut.
Wie ist die Dynamik in dieser Gruppe?
Die Chats, die wir untersucht haben, markieren die Schlussphase dieser Gruppe, die letzten drei Monate vor dem Anschlag. Die Gruppe marschiert zielstrebig voran, am Ende ist auch ein Schließungsprozess zu beobachten. Die Außenkontakte werden minimiert, die Gruppe traut nur noch sich selbst. Es gibt sogar Auseinandersetzungen darüber, ob man noch in anderen Moscheen beten kann, weil alle anderen keine echten Muslime, sondern Ungläubige sind. Und man kontrolliert sich natürlich auch gegenseitig. Interessant ist auch, dass die Gruppe einen der Jugendlichen zum Chef gemacht hat, einen sogenannten Amir, was eigentlich ein militärischer Befehlshaber ist. Und der kommandiert alle herum. Wir hatten eher mit einer informellen Hierarchie gerechnet, die man aus Jugendgruppen kennt.
Das heißt, es gibt nicht den klassischen Rekrutierer, der eine Gruppe um sich schart und zum Dschihadismus verführt?
Das wissen wir letztlich natürlich nicht. Vieles wird in der Kommunikation auch nicht preisgegeben. Wir wissen nicht, wie sich die Gruppe gefunden hat, aber sie war sofort klandestin. Es gibt Bezugnahmen auf die Propaganda des „Islamischen Staates“. Aber in dem Gruppenchat ist keine Fremdsteuerung erkennbar. Und es gibt auch nicht Dinge wie: Ihr wisst ja, unser Bruder hat gesagt, wir sollen … Die Diskussionen sind oft sehr sprunghaft, wie das bei Jugendlichen so ist. Stringent aber wird die Gewaltfrage diskutiert, bis die Zweifler einschwenken oder wegbleiben. Die Gruppe radikalisiert sich. Das Verfahren ist immer gleich: Sie haben etwas vor und suchen sich Gründe, um ihr Vorhaben zu rechtfertigen. Nicht umgekehrt. Vieles ist an den Haaren herbeigezogen.
Wie funktioniert die Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft und anderen Muslimen?
Sie meinen, man darf niemandem trauen, anderen Muslimen nicht, selbst anderen Szeneangehörigen nicht. Pierre Vogel, Ibrahim Abou-Nagie – aus ihrer Sicht sind sie alle Kuffar (Ungläubige, die Red.). Am Ende gibt es eine Stelle, mit der Frage: Wo sollen wir eigentlich noch beten? Dann kommen sie auf die Idee, eine eigene Moschee zu gründen. Andere Muslime kämen gar nicht auf so eine Idee, weil sie wissen, dass man für eine Moschee eine Freitagspredigt und für eine Freitagspredigt religiöses Wissen braucht. All das deckt sich mit Erkenntnisse über andere Attentäter, zum Beispiel in Paris oder auch Anis Amri, der den Anschlag in Berlin verübt hat. Deren religiöse Kenntnisse waren auch gering.
In den Chats taucht ein „Hasental“ auf, das wohl als Synonym für das Kalifat gemeint ist. Welche Rolle spielt das?
Das ist ein Sehnsuchtsort, die ideale Lebenswelt, dort sind alle Probleme gelöst. Darüber unterhalten sie sich wie Kinder: „Ich habe gehört, im Hasental hat jeder seinen eigenen Bau.“ Das ist eine krude Mischung. Eigentlich sind es noch Jugendliche, aber sie sind wild entschlossen.
Geht es auch um banale Alltagsdinge?
Es geht auch um Verliebt-Sein, Schule, Stress mit den Eltern. Es gibt auch ganz skurrile Stellen. Einer geht eine Zeitlang nicht auf die Toilette, weil er Angst vor einem Dschinn, einem Geist, in den Abflussrohren hat. Da hat wieder irgendjemand etwas gelesen, das bekommt dann Bedeutung.
Wie viel von diesen Radikalisierungsprozessen ist wissenschaftlich erforscht?
Man weiß darüber bislang wenig. Natürlich gibt es allgemeine Prozessmodelle von Radikalisierung, aber wir wissen nicht, wie das tatsächlich wirkt. Es gibt verschiedene Kriterien, wie Krisenerfahrung in der Familie, Erfahrung des persönlichen Scheiterns, Diskriminierung und so weiter, aber diese Probleme haben andere Jugendliche ja auch – und bei vielen geht es gut. Deshalb ist Prävention auch so schwer. Man kann nicht sagen: wenn das passiert, muss man soundso handeln.
Was kann man aus einer solchen Studie für die Prävention lernen?
Die Rolle der Moscheegemeinden kann man vernachlässigen. Wir müssen uns auf die Orte konzentrieren, wo die Jugendlichen tagtäglich anzutreffen sind. Hauptfokus muss also die Schule sein. Und wir müssen früh anfangen, vor den Krisen. Aber das ist noch nicht verstanden. In Bund und Ländern gibt es Prävention vor allem als Sonderbereiche und Intervention.
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