Irina ScherbakowaUnendliche Geschichte: Der dritte Korb: Menschenrechte, Würde und Freiheit
Der 21. August 1968, der Tag, an dem ich vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag hörte, wurde zu einem schweren Tag. Es war der Abschied von der Hoffnung auf Freiheit, zumindest in der Tschechoslowakei. Es begannen die „bleiernen Zeiten“ unter Breschnews Anleitung aus Moskau. Die Zensur wurde im „Ostblock“ verschärft, über das Thema GULag zu sprechen, erneut verboten. Der KGB, der sowjetische Geheimdienst, erhöhte den Druck, Dissidenten wurden brutal verfolgt.
Vor diesem Hintergrund erschien die Unterzeichnung der Schlussakte der Helsinki-Vereinbarungen im August 1975 völlig unglaublich. Die Beratungen im finnischen Helsinki hatten mehrere Monate gedauert. Die sowjetische Seite war sehr daran interessiert, die Vereinbarungen zu unterzeichnen. Inoffiziell wurde sie als die „drei Körbe“ bezeichnet.
Der erste Korb bestätigte die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa, wie sie nach 1945 festgelegt worden waren. Der zweite betraf die Ausweitung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Aber es gab auch einen dritten Korb – den humanitären –, in dem von Menschenrechten, Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit die Rede war.
Natürlich rief der dritte Korb Befürchtungen bei den Politbüromitgliedern hervor. Aber schließlich wurde doch beschlossen, zu unterschreiben. Man ging davon aus, dass es nur Worte sind, die auf dem Papier bleiben würden. Doch eine der Bedingungen für die Unterzeichnung war ausdrücklich die Veröffentlichung des Vertragstextes.
Ich erinnere mich gut an den Eindruck, den die in der Moskauer Tageszeitung Prawda, dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei, veröffentlichten Vereinbarungen aus dem „dritten Korb“ machten. Denn dort stand tatsächlich: „Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben … fördern und ermutigen“.
Natürlich war die KGB-Führung der Meinung, dass es im Land nur sehr wenige Dissidenten gebe. Und, dass sie ohnehin nichts ausrichten könnten. Doch sie hatten sich verrechnet. Denn nun forderten die Dissidenten lautstark und vor der ganzen Welt nicht abstrakt „Freiheit“, sondern die Einhaltung der Verpflichtungen, die man in Helsinki übernommen hat.
1976 gründeten Dissidenten die Moskauer „Helsinki“-Gruppe. Sie begann, Informationen über Proteste und politische Verfolgung in der Sowjetunion zu sammeln und zu verbreiten Sie half politischen Gefangenen und half Informationen im Westen zu verbreiten. Helsinki-Gruppen entstanden auch in der Ukraine, in Litauen, in Georgien und in anderen Ländern Osteuropas.
Die Reaktion des KGB ließ nicht lange auf sich warten. Es begann eine Phase harter Repression. Dennoch gelang es nicht, die Helsinki-Bewegung vollständig zu zerschlagen. An die Stelle von Verhafteten traten immer neue Menschen – und die Arbeit ging weiter.
Neue Hoffnung auf Freiheit nährte der Machtantritt Gorbatschows. Sein proklamiertes „neues Denken“ führte schließlich zum Ende des Kalten Krieges, zum Fall der Berliner Mauer und zur Befreiung Osteuropas von den kommunistischen Diktaturen. Im Jahr 1989 wurde die Moskauer Helsinki-Gruppe von aus der Verbannung und dem Exil zurückgekehrten Dissidenten neu gegründet. Die Worte der Helsinki-Akte schienen nun Wirklichkeit zu werden.
Doch heute, 50 Jahre nach ihrer Unterzeichnung, ist es bitter zu erkennen, wie weit sich das gegenwärtige Russland von den Prinzipien entfernt hat. Der humanitäre Geist der Helsinki-Akte ist vollständig aus dem Land verbannt.
Die Autorin ist russische Historikerin und Menschenrechtlerin. Letzte Buchveröffentlichung: „Memorial. Erinnern ist Widerstand“.
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