Investor vertreibt Straßenkinder: Kids sind ohne Bleibe in Hamburg
In vier Wochen muss Deutschlands größtes Straßenkinder-Projekt seine Räume am Hauptbahnhof aufgeben. Ein Investor plant dort einen Büro-Eingang
Marvin (16)* läuft suchend in der Küchen umher, bevor er sich einen Teller mit Nudeln füllt und an den Tisch setzt. Gerry isst schon. Marvin trägt ordentliche kurze Haare, Gerry wilde Rastalocken und Piercings. Seit er elf ist, wohnt er nicht mehr Zuhause, „seitdem bin ich nirgends richtig angekommen“, sagt Gerry. „Das Kids hier ist für die meisten von uns, die auf der Straße und in verschiedenen Heimen leben, die einzige Konstante“, sagt der 17-Jährige. „Ohne Konstante rutscht man noch viel weiter ab.“
Essen, Kleider wechseln, die Anlaufstelle Kids erfüllt einfache Grundbedürfnisse. „Hier chillen Jugendliche, die beim Kinder- und Jugendnotdienst sind“, sagt Marvin. Beim Notdienst schlafen die, die keinen festen Platz in einer Einrichtung haben. „Ich suche ein Haus, wo ich bleiben kann“, sagt Marvin leise. Er sei gerade „wo rausgeflogen“.
Das ist Alltag im Kids. Der Name steht für „Kinder in der Szene“. 1993 eröffnete Deutschlands größtes Straßenkinder-Projekt am Hauptbahnhof. Es erreicht bis zu 600 Jugendliche im Jahr. Auch Gerrys Sitznachbarin Jana kann diese Fakten herunter rattern, verteilt „Kids muss bleiben“-Flyer auf jedem Punkkonzert, das sie besucht. Immer Freitags kommt sie aus einer Kleinstadt angereist, weil sie es dort nicht aushält. Das erste Mal war sie mit 13 Jahren ausgebüxt. Ohne Kids, sagt sie, hätte sie schnorren müssen.
Essen ist hier wichtig, die Gespräche laufen nebenbei. An diesem Tag kommt das mit Spenden der Tafel gekochte Mahl etwas später auf den Tisch. Für zwei Stunden haben die Mitarbeiter die Möbel nach draußen gestellt und das Angebot ihres Lernprojekts „Hirntoaster“ auf den Heidi-Kabel-Platz verlagert. Es werden Buttons gebastelt, T-Shirts bemalt – eine Aktion für die Presse, doch nur die taz kam. Dass das Kids raus muss, ist nichts Neues mehr.
Exklusive Beletage statt Straßenkinder
„Die Ladenräume im Biberhaus sind ideal“, sagt Sozialarbeiter Malte Block. „Hier erreichen wir die Kids. Wir wollen nirgendwo anders hin.“ Doch die Firma Alstria, die das große Bürohaus 2006 von der Stadt gekauft hat, will sanieren und ausgerechnet die Räume des Kids als Baustellen-Lager nutzen.
„Auf fast jeder Baustelle wird geklaut. Wir planen deshalb mit einer abschließbaren Fläche“, sagt Alstria-Projektleiter Martin Jenke. Zu Unrecht werde die Firma als Schuldige dargestellt, schließlich habe man den Kids-Betreiber Basis & Woge vor über einem Jahr über die Kündigung informiert und Hilfe bei der Suche nach anderen Räumen angeboten.
Gerry, Kids-Besucher
Jenke nimmt auch die Hoffnung, das Kids könne nach der Sanierung zurück. An der Stelle soll ein „separater Antritt“ für die exklusive Beletage im ersten Stock entstehen. „Wir haben noch keine Mieter dafür, aber es wird eine Büronutzung.“
Für das Kids gestaltet sich die Suche nach neuen Räumen schwierig, weil die Stadt kaum noch Häuser in Bahnhofsnähe besitzt. Es dürfte auch nicht zu nah am Rotlicht-Milieu oder der Drogenszene sein. Nach Prüfung einer Liste käme eine Fläche in den City-Hochhäusern infrage, aber die werden 2018 wohl abgerissen. „Das wäre allenfalls ein Kids-Exil“, sagt Sozialarbeiter Block. „Für die Kinder, die selber von Übergang zu Übergang leben, ist es pädagogisch Gift, wenn auch ihr Hilfsprojekt nur als Provisorium besteht.“
Antrag für Container-Aufstellung wird geprüft
„Es wird wahrscheinlich eine provisorische Lösung geben müssen“, sagt Basis & Woge-Geschäftsführer Thomas Nebel trotzdem. Mit der Sozialbehörde wird auch darüber gesprochen, Container aufzustellen. Doch auch hier ist die Frage, wohin und wie groß? Eine Lösung wäre ein kleiner Container am Bahnhof, der die Jugendlichen auf den neuen Standort hinweist. Doch um seine Arbeit am Hauptbahnhof fortzusetzen, und auch Duschen und Essen anzubieten, braucht das Kids mehr Platz.
Nach Auskunft der Bahn gehört der Grund ab Bahnhofsmauer der Stadt. Ein Antrag für die Aufstellung von vier Containern sei am Freitag eingegangen und werde geprüft, sagt die Sprecherin des Bezirks Mitte, Sorina Weiland.
Gegenüber der Kunsthalle zum Beispiel gibt es eine freie Fläche, wo schon mal Container standen. Denkbar wären ebenfalls, auch wenn das zurzeit wohl nicht im Gespräch ist, Container auf dem Heidi-Kabel-Platz – in Sichtweite zum neuen Büro-Eingang.
*Name geändert
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