Interview: "Wir brauchen ein ostdeutsches 68"
Die Sprachlosigkeit ostdeutscher Politiker nach Überfällen wie im sächsischen Mügeln resultiert aus der besonderen Zusammensetzung der Eliten, sagt der Autor Gunnar Hinck.
taz: Herr Hinck, in Ihrem Buch "Eliten in Ostdeutschland" beschreiben Sie auch die Sprachlosigkeit dieser Eliten gegenüber dem Rechtsextremismus. Inwieweit trifft das auf Mügeln nach den Übergriffen auf mehrere Inder zu?
Gunnar Hinck: Der Bürgermeister Gotthard Deuse hat sich ja geäußert - gegenüber den Medien, und das nicht glücklich. Aber zu den Einwohnern seiner Stadt hat er zunächst nichts gesagt. Da blieb er sprachlos.
Was hätte das gebracht?
Man darf eines nicht unterschätzen: Gerade in Ostdeutschland besitzen die lokalen Repräsentanten wie Landräte oder Bürgermeister mehr Autorität als die Regierungspolitiker in Land oder Bund. Sie sind oft noch natürliche Respektspersonen und haben damit auch gehörigen Einfluss. Wenn ein Bürgermeister nach einem Überfall wie in Mügeln scharf und deutlich sagen würde: "Ich dulde euer Treiben nicht, ihr seid eine Schande für unsere Stadt", dann hätte das eine Wirkung.
Rechtsextreme scheren sich doch schon lange nicht mehr um das, was die Amtsträger des "Systems" ihnen sagen.
Der harte Kern nicht, und um den geht es auch nicht. Aber für den 19-jährigen Dachdeckerlehrling, den Mitläufer, gibt es nichts Schlimmeres als das Gefühl, nicht mit zur Dorfgemeinschaft oder in seine Kleinstadt zu gehören. Auf den würden solche Ansagen schon Eindruck machen.
Warum nutzen die Eliten ihren Einfluss dann nicht?
Das liegt an ihrer Herkunft: Drei Typen kann man da ausmachen: Erstens ehemalige SED-Kader, die damals in der zweiten Reihe saßen und heute über die Linkspartei Einfluss besitzen oder oft auch in der lokalen Wirtschaft zu finden sind. Sie sprechen nicht gern über heutigen Rechtsextremismus, weil sie ungern daran erinnert werden wollen, dass ihre ehemalige Partei auch nicht gerade zimperlich mit Ausländern umgegangen ist. Die Vertragsarbeiter aus Angola oder Vietnam wurden in abgeschottete Wohnheime verfrachtet. Der Kontakt mit Deutschen sollte sich auf ein Minimum beschränken.
Aber zu den Altkadern gehört Herr Deuse ja nicht.
Nein, er war einfaches Mitglied der Blockpartei LDPD, dem FDP-Pendant in der DDR, und hat als Ingenieur gearbeitet. Er ist ein typischer Vertreter der zweiten Eliten-Gruppe im Osten, der ehemaligen naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz der DDR. Diese lebte zu DDR-Zeiten eher staatsfern und wurde dann durch den Revolutionsherbst plötzlich in die Politik hochgespült. Die Sprachlosigkeit dieser Gruppe rührt wohl daher, dass manche bis heute noch staunen, auf was für Positionen sie da gekommen sind. Dass ein Bürgermeister nicht nur Straßen bauen, sondern auch gesellschaftliche Probleme vor Ort benennen muss, ist vielen nie klar geworden.
Was ist mit den Menschen, die aus dem Westen kamen, um in ostdeutschen Ministerien und anderen Institutionen zu arbeiten?
Das ist die dritte Gruppe, die Aufbauhelfer. Eigentlich ist der Blick des Dazugekommenen immer ganz hilfreich, die Dinge beim Namen zu nennen. Aber sie sagen lieber nichts, aus Angst, als arroganter Wessi wahrgenommen zu werden. Diese drei Gruppen bilden eine Art Stillhaltegemeinschaft, wobei die Gründe für das Stillhalten eben ganz unterschiedlich sind. Konflikte werden dementsprechend nicht offen ausgetragen. Eine politische Streitkultur hat sich noch nicht entwickelt, erst recht nicht in den Kommunen.
Wo ist der Unterschied zum Westen? Die alte BRD galt doch auch immer als Konsensgesellschaft.
Aber sie hat sich eine demokratische Kultur erarbeitet. Womöglich braucht es eine Art ostdeutsches 68, durch das die nötigen Prozesse in Gang kommen, damit sich die ostdeutsche Gesellschaft kritisch mit sich selbst auseinandersetzen kann.
Wie soll das aussehen?
Es gab in der DDR zuletzt 340.000 Nomenklaturkader. Deren Kinder sollten einmal nachfragen, was ihre Eltern eigentlich genau gemacht haben in dem Staat und warum sie bis zuletzt funktioniert haben. Davon wollen die Eltern heute natürlich nichts mehr hören. Die richtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kommt erst noch.
Dafür müssten sich junge Menschen überhaupt erst mal für die DDR interessieren. Danach sieht es derzeit nicht aus.
Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit brauchen immer Zeit, weil eine neue Generation dafür nötig ist. Die Meldungen über den Wegzug junger Leute aus dem Osten ergeben da auch ein schiefes Bild: In der Provinz sieht es teilweise dramatisch aus, aber Universitätsstädte wie Leipzig, Halle oder Rostock binden durchaus wache junge Leute an sich. Von da aus könnte ein ostdeutsches 68 nur beginnen, nicht von Vorpommern aus.
INTERVIEW: DANIEL SCHULZ
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