Interview über Ernest Borneman: „Ein Vorkämpfer des Pop“
Ernest Borneman war Sexforscher, Jazzkritiker, Filmemacher. Sein Biograf Detlef Siegfried spricht übers Tanzen und die Leidenschaft.
taz: Herr Siegfried, Ernest Borneman war eine bekannte Figur in der bundesdeutschen Debattenlandschaft. Er scheint vergessen. Wer war er?
Detlef Siegfried: Emigrant, Intellektueller, Autodidakt – ein enorm produktiver, kluger und witziger Mann. Borneman ist in der Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre bekannt geworden als Sexualwissenschaftler, aber er hat viel mehr gemacht. Er hat Romane geschrieben, war ein führender Jazzkritiker der englischsprachigen Welt, er hat Dokumentar- und Spielfilme gedreht, darunter von Kanada aus Propagandafilme gegen das „Dritte Reich“, er war als Remigrant in der Bundesrepublik führend am Aufbau eines zweiten deutschen Fernsehprogramms beteiligt und seit den späten 60er Jahren ein Propagandist der „sexuellen Revolution“. Ein Multitalent, kreativ und die Nase vorn auf vielen Gebieten der künstlerischen Moderne – und vor allem auf dem Gebiet der Massenkultur.
Woran lag das Fremdeln des akademischen Betriebs mit ihm – weil er kein Abitur hatte?
Er selbst fremdelte gar nicht so sehr. Er forschte einfach drauflos, als Autodidakt eben. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm jedenfalls nicht. Es war eher der akademische Betrieb, der ein Problem mit ihm hatte. Das hat ihm vor allem in der Sexualwissenschaft zu schaffen gemacht, die zwar viele Quereinsteiger kannte, aber seit den frühen 70er Jahren einen Akademisierungsprozess durchlief. Kein Abitur, kein „richtiges“ Studium mit Scheinen und Abschluss – das hat schon massive Vorbehalte mobilisiert.
Ihm fehlte halt der Stallgeruch, und dabei blieb es. Dass er nicht studieren konnte, weil er sechs Wochen vor dem Abitur, im Juni 1933, aus politischen Gründen aus Deutschland fliehen musste, haben viele nicht in Rechnung gestellt. Erst Mitte der 70er Jahre, als die Mauern des akademischen Elitismus sich ein wenig öffneten, konnte er an der Bremer Reformuni promovieren.
War er ein Intellektueller, ein Experte?
Experte auch, aber vor allem Intellektueller im besten Sinne. Jemand, der die Zeiterscheinungen stets in einen politischen Kontext einordnete. Und der eine Verantwortung verspürte, sein Wissen zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen, indem er sie veränderte. Borneman war ein linker Intellektueller, der sich insbesondere für das einsetzte, was er als Volkskultur betrachtete – jene Lüste und Vergnügungen der Plebejer, die in der sogenannten Hochkultur verachtet wurden.
Was entdeckte er vor der Zeit – etwa das Tanzen?
Der Historiker, Jahrgang 1958, arbeitet an der Universität Kopenhagen. Er publiziert häufig zur Pop- und Volkskultur, etwa auch in dem Buch „Time Is On My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der sechziger Jahre“ (2006, Wallstein Verlag).
Das Buch: „Moderne Lüste. Ernest Borneman - Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher“ ist jüngst im Wallstein-Verlag, Göttingen, erschienen und kostet 29,90 Euro.
Ja, insofern, als das Tanzen in Kreisen der Jazzexperten keinen besonders hohen Stellenwert hatte. Viele der frühen Jazzkritiker wollten der von ihnen geliebten Musik zu Anerkennung verhelfen, indem sie ihr eine Art hochkulturellen Status verschafften – ebenso gut wie klassische Musik. Das war ganz besonders deutlich in der Bundesrepublik, wo man sich noch immer etwas auf eine vermeintliche Überlegenheit deutscher Kultur einbildete und etwa Joachim Ernst Berendt versuchte, den Modern Jazz als abstrakte Kunstform zu propagieren.
Borneman hat sich über diesen Ansatz lustig gemacht und zum Beispiel zu Berendts erstem Jazzbuch von 1950 gemeint, es gäbe wohl keinen modernen Philosophen, Maler oder Schriftsteller, der in diesem Text nicht erwähnt werde. „Was Sie in einem Buch mit dem Titel ’Der Jazz‘ zu suchen haben, werden weder Sie noch ich je verstehen, aber als eine Art geistiger Hürdenlauf ist das Buch unschlagbar.“ Für Borneman war Jazz keine akademische Angelegenheit, sondern amerikanische Volksmusik, die nicht zuletzt ein wichtiges Bedürfnis junger Leute bedienen sollte: das Bedürfnis zu tanzen.
Konnte er denn tanzen?
Jedenfalls tanzte er, ob gut oder schlecht, kann ich kaum beurteilen. Es war ihm wichtig, der zackigen Ausrichtung insbesondere männlicher Körper eine zivilere Form der Bewegung entgegenzusetzen: das Lässige, das Jazzfans an den Amerikanern so bewunderten. Den Rationalismus europäischer Provenienz, die Zurichtung im Körperausdruck, in der Musik, im Tanz war ihm suspekt, er hielt sie auch für einfältig und grob und setzte ihm afrikanische Muster entgegen, die er für sehr viel subtiler hielt.
Warum war es der Jazz, der ihn faszinierte?
Es war die Musik seiner Jugend, die ihm in die Beine ging, aber der Jazz war auch eine intellektuelle Herausforderung: Was genau war Jazz eigentlich? Woher kam er? Inwiefern war er „schwarz“, inwiefern „weiß“? Jazz war, Borneman zufolge, überhaupt keine „rassische“ Musik, sondern ein typisch amerikanisches Mischprodukt mit allerdings starken „schwarzen“ Anteilen.
Wie ein Ethnologe suchte er nach der Komposition und Entwicklung dieser hybriden Form, die nur auf dem hohen Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Organisation entstehen konnte, wie sie in den USA vorzufinden war. Junge Leute liebten den Jazz, aber er war eben auch eine enorme intellektuelle Herausforderung als spezifische kulturelle Form der Moderne des 20. Jahrhunderts.
Wann hat er sich das erste Mal mit Sexuellem in der intellektuellen Arbeit beschäftigt?
Das Sexuelle spielte in seiner Arbeit immer eine Rolle, beim Jazz ebenso wie beim Film und auch in seinen Romanen. Aber intensiver hat er sich mit Geschichte und Praktiken der Sexualität erst seit den frühen 60er Jahren beschäftigt – als er sich, nach 27 Jahren zurück in Deutschland, mit dem Deutsch seiner Gegenwart beschäftigte, darunter die Sexualsprache insbesondere von Kindern. Später kamen große Studien zur Sexualität im antiken Griechenland und in Rom hinzu, die als Buchpublikationen in einer Reihe „Sitten der Menschheit“ gedacht waren und dann in sein wichtigstes Buch „Das Patriarchat“ eingingen.
Warum?
Anfangs war es wohl ein allgemeineres Interesse, das sich vor allem auf die genannten sprachlichen Aspekte konzentrierte. Seit den späten 60er Jahren interessierte er sich für die Verbindung von Marx und Freud, insbesondere in der Interpretation von Wilhelm Reich, der einen engen Zusammenhang zwischen sexueller und politischer Revolution behauptet und dadurch nicht nur die Studentenbewegung, sondern auch Borneman inspiriert hatte.
Man muss dabei bedenken, dass der Remigrant ja im linken Kulturradikalismus der späten Weimarer Republik groß geworden war, der KPD zumindest nahestand und vermutlich auch Mitglied war und stets einen politischen Anspruch hatte. Die Studentenbewegung gab ihm die Möglichkeit, sich als Vorläufer dieser Bewegung zu profilieren, der aus seiner Erfahrung einiges zu den um 1968 aktuellen Debatten beizutragen hatte. Da war die „sexuelle Revolution“ ein naheliegendes Thema.
Weshalb sind die sexualwissenschaftlichen Institute in Frankfurt am Main und Hamburg so viel wirkmächtiger geblieben?
Borneman hat immer einen wissenschaftlichen Anspruch gehabt, aber nie die Möglichkeit, in finanziell gesicherter Position wirklich frei wissenschaftlich zu arbeiten. Er musste sich freiberuflich über Wasser halten und also immer daran denken, wie mit seiner Wissenschaft auch der Lebensunterhalt zu verdienen war. Auch deshalb erscheint die empirische Grundlage seiner Arbeit oftmals unklar, seine Schlussfolgerungen nicht immer nachvollziehbar. Da hatten die jungen Sexualwissenschaftler in Hamburg und Frankfurt ganz andere Möglichkeiten – jedenfalls einige von ihnen.
Günter Amendt etwa blieb ja eine feste Position ebenfalls verwehrt. Hinzu kam: Als das „Patriarchat“ erschien, war Borneman 60 Jahre alt und in mancher Hinsicht von der jüngeren Szene abgeschnitten. Der Zeitgeist war über ihn hinweggegangen, auch weil viele seiner Positionen wohl um 1968 aktuell waren, aber nicht mehr in den 80er Jahren, als sein Ideal einer gleichberechtigten und gewaltfreien Sexualität an Rückhalt verloren hatte.
Geboren am 12. April 1915 in Berlin, gestorben am 4. Juni 1995 in Scharten. Emigration nach England, später Kanada, Remigration 1960 in die BR. 1976 Promotion an der Reformuni Bremen, 1978 Professur an der Uni Salzbur. Mit Beate Uhse, Oswalt Kolle und Dr. Sommer war er der populärste Sexualaufklärer bis Mitte der 80er Jahre. Schriften: „Lexikon der Liebe und Sexualität“ (1968), „Sex im Volksmund“ (1971), „Das Patriarchat“ (1975).
War Borneman zufrieden mit dem, was er am Lebensende in eigener Sache sah?
Nein, im Gegenteil. Seine drei großen Themen: Sozialismus, Psychoanalyse und eine freie Sexualität waren aus seiner Sicht am Anfang der 90er Jahre gescheitert. Gegen seinen Willen, gegen seinen Einsatz und zu seiner großen Verzweiflung war wenig von dem, was ihm als Utopie vorschwebte, Wirklichkeit geworden – im Gegenteil. Das alles verdichtete sich zu einer schweren Lebenskrise, an deren Ende der Suizid von 1995 stand.
Worin lag begründet, dass er sich auch vom Sexuellen in Kombination mit Politischem gesellschaftlich Veränderndes erwartete?
Borneman hatte harmonische, man kann auch sagen humane Ideale: eine Gesellschaft frei von Unterdrückung und Ausbeutung, Sexualität, die auf Nähe, Gegenseitigkeit und Egalität beruht. Im Grunde war das eine ohne das andere nicht zu denken.
In seiner Kritik am Kommerziellen lag er womöglich nah an seinen Kritikern, die ja gerade seinen Blick auf Volkstümliches verachteten?
Für ihn waren Volkskultur und kommerzielle Interessen im Kern unvereinbar. Während das eine von unten entstand, aus den unterdrückten und verachteten Sozialschichten, bedeutete Kommerzialisierung immer Verfälschung ins Künstliche. Hier saß er in der Tat einem Authentizitätsideal auf, das er in anderer Hinsicht durchschaute und ablehnte.
Die von ihm unterstützten Varianten des Jazz konnten ja ohne die Kulturindustrie überhaupt nicht groß werden. Und er selbst bediente sich ja schließlich auch der Massenmedien – Radio, Fernsehen, Illustrierte – mitunter an vorderster Front. Im Unterschied zu manchen seiner Kritiker, und das ist aus meiner Sicht der entscheidende Unterschied, verachtete er jedoch nicht das Populäre – im Gegenteil, er wollte ihm zu der ihm angemessenen Geltung verhelfen. Insofern war er ein Vorkämpfer des Pop.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles