Interview mit einem Experten für erzieherische Hilfen: "Heimerziehung wird wieder härter"
Nach Niedersachsen debattiert nun Schleswig-Holstein über ein geschlossenes Heim. Josef Koch, Experte für erzieherische Hilfen, sieht darin keinen Sinn und fürchtet negative Folgen für alle Heime.
taz: Herr Koch, als vor acht Jahren in Hamburg ein geschlossenes Heim eröffnete, hat ihr Fachverband protestiert. Inzwischen ist es wieder dicht, aber nun plant Niedersachen ein solches Heim und Schleswig-Holstein diskutiert darüber. Hat die Politik nichts gelernt?
Josef Koch: Salopp gesagt: Ja. Obwohl es andere Formate sind, bei denen die Kinder nicht gleich als Gefangene zu erkennen sind. Man spricht von Intensivbetreuung oder freiheitsbegrenzenden Maßnahmen. Da ist von Chill-out- oder Time-out-Räumen die Rede. Nur die Kinder selbst sprechen von Knast und Isolation.
Gibt es Konzepte darunter, die Sie in Ordnung finden?
Nein. Es handelt sich um Freiheitsentziehung. Da muss man vorsichtig sein. Die Kinder sind sehr jung. Mädchen sind im Schnitt 14, Jungen 13 Jahre alt. Es ist fragwürdig, wenn in dem Alter schon Einsperren als letzte Maßnahme gilt. Schwierig ist dabei auch die Rechtsgrundlage. Eine Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts von 2006 ergab, dass jedes dritte Einweisungsverfahren Rechtsfehler hatte. Da werden Kinder nicht angehört, es fehlen psychiatrische Gutachten, es wird kein Verfahrenspfleger gestellt. Es ist willkürlich und schwankt von Jugendamt zu Jugendamt, ob jemand eingewiesen wird. Wobei die Quote in Ländern, die eine geschlossene Unterbringung haben, wesentlich höher liegt als bei Ländern, die keine haben, aber Kinder auswärtig geschlossen unterbringen. Das Platzangebot schafft den Bedarf.
Helfen geschlossene Heime?
Es gibt keine Untersuchung, die belegt, dass sie die Kinder lebensfähiger machen als offene. Auch wenn es Einzelfälle gibt, wo jemand im Nachhinein sagt: Das war ganz gut für mich. Aber Menschen, die in schwierigen Situationen waren, neigen dazu, dies im Nachhinein positiv zu rahmen.
ist Geschäftsführer der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen, dem bundesweit größten Erziehungsfachverband.
Geschlossene Heime
In Schleswig-Holstein wird seit dieser Woche die Wiedereinrichtung eines geschlossenes Heims diskutiert. Der CDU-Innenpolitiker Werner Kalinka sagte: "Für mich ist das kein Tabu." Man müsse darüber nachdenken, "jugendliche Intensivtäter als letzte Maßnahme in geschlossenen Heimen unterzubringen".
Im schwarz-gelben Koalitionsvertrag steht davon nichts. Die FDP ist nicht begeistert. "Geschlossene Heime und Strafverschärfung sind für uns keine Lösung des Problems", sagt ihr innenpolitischer Sprecher Gerrit Koch. Bis zum Juli wird das Innenministerium einen Maßnahmenkatalog vorlegen.
In Niedersachsen sind sich CDU und FDP einig. Dort eröffnet in der Stadt Lohne im Landkreis Vechta am 1. Mai in einer ehemaligen Kaserne eine "Geschlossene Intensivtherapeutische Wohngruppe" für bis zu sieben Jungen im Alter von zehn bis 14 Jahren.
Wie erklären Sie den Boom? Sind die Kinder schwieriger?
Es gibt bundesweit einen Anstieg an Plätzen. 2002 waren es noch 140, heute sind es ohne die neu geplanten 357. Wir beobachten, dass sich die Jugendhilfe teilt. Es gibt die niedrigschwellige Beratung und die Aktivitätsangebote für die normalen Familien. Und dann gibt es eine verstärkte staatliche Kontrolle für Armutsfamilien. Das hängt mit den spektakulären Fällen von Kinderleichen zusammen, obwohl diese statistisch gesehen nicht gestiegen sind.
Was spricht dagegen, Kinder einzusperren?
Abgesehen von dem, was in den geschlossenen Heimen passiert, haben diese ,Leuchttürme' eine Ausstrahlung auf die ganze Jugendhilfe. Es entsteht eine Grauzone. Normale Heime beginnen mit Time-out-Räumen zu arbeiten. Das heißt, der Heimleiter bestimmt, wer einen Tag nicht raus darf. Das ist nicht legal und führt dazu, dass die ganze Heimerziehung wieder härter wird.
Woher wissen Sie das?
Wir haben dazu zwei Expertengespräche mit Heimleitungen geführt. Es traut sich aber keiner, dies öffentlich zu sagen.
Ist es nicht in Familien auch normal, dass Eltern sagen: Du bleibst heute mal zu Hause.
Ja schon. Aber das ist etwas anderes, als wenn eine staatliche Institution das tut. Da sind die Gefahren von Willkür und Missbrauch groß.
Was ist die Alternative?
Es gibt sie. In Leipzig zum Beispiel haben sich alle Träger zusammen getan und gesagt: Wir machen keine geschlossene Unterbringung. Statt dessen bieten wir euch für das gleiche Geld ein Hilfenetz, das alle Jugendlichen aushält. Es gab in der 1980er Jahren viel mehr Experimente mit offenen Formen bis hin zu erlebnispädagogischen Reisen. Heute fließt das Geld dafür in geschlossene Heime.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers