Interview mit Daniel Kehlmann: „Glauben? Lieber nicht“
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat sonst allen Platz der Welt, um sich auszudrücken. Im Stichwort-Interview fasst er sich kurz. Snowden? Simpsons? Seitensprung?
Erste Erinnerungen
Eine Fiktion. Bei frühen Erinnerungen gibt es keine Reihenfolge, sie sind nicht datiert.
Kindheit
Die Zeit des intensivsten Lebens.
Jesuitenschule
Stimmt, ich war auf einer. Christliche Indoktrinierung fand dort nicht statt, nur dann und wann forderte man uns auf, nach Südamerika zu gehen und Revolution zu machen. Vielleicht hätte ich das tun sollen.
Jüdische Abstammung
Umschreibt man im Feuilleton inzwischen auch gern wieder mit „Kosmopolit ohne Wurzeln“.
Vater-Sohn-Beziehung
Eines der großen Themen der Literatur, aber Mutter-Tochter-Beziehungen sind wahrscheinlich schwieriger.
Zauberkunst
In der Hand eines Könners gibt es nichts Schöneres. Dann ist sie kein bloßes Entertainment, sondern steht gleichwertig mit Musik und Malerei.
Schreiben
Das Einzige, was ich kann. Außer zaubern, was ich aber nicht gut kann.
Person: Österreichisch-deutscher Schriftsteller, geboren 1975 in München. Lebt in Wien und Berlin. In seiner Kindheit war er passionierter Zauberer.
Größter Erfolg: „Die Vermessung der Welt“ – mit rund 2,3 Millionen verkauften Exemplaren allein im deutschsprachigen Raum. Auf einer Liste der international bestverkauften Bücher des Jahres 2006, die die New York Times veröffentlichte, kam der Roman auf Platz zwei. Er erzählt die um zahlreiche Erfindungen angereicherten Lebensgeschichten der beiden Forscher Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß – ein Roman über die Entstehung der modernen Wissenschaft.
Zuletzt: Am 30. August 2013 erschien Kehlmanns neuester Roman „F“. Er erzählt die Geschichte dreier Brüder, die Lügner, Betrüger und Heuchler sind. Der Roman wurde in die Longlist des Deutschen Buchpreises 2013 aufgenommen und gelangte kurz nach Erscheinen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste.
Vorwurf: „leicht konsumierbar“
Ein Vorwurf an mich? Wusste ich gar nicht. Ich dachte, mein offizieller Vorwurf wäre: zu konstruiert, zu intellektuell. Da müsste man sich aber mal entscheiden.
Schönster Satz
Jeder einzelne von Kleist.
Literarische Vorbilder
Die Frage ist wichtig, aber auch langweilig. Ich könnte darüber reden, dass jedes gute Buch einem zum Vorbild werden kann oder dass Autoren, die einen prägen, oft gerade die sind, von denen man sich in Bewunderung abgrenzen möchte, oder … Aber ich muss selbst gähnen, und ich habe gottlob nur drei Sätze.
Überschätzte Autoren
Ich dachte immer, Böll wäre überschätzt, aber neulich habe ich ihn wieder gelesen und war überrascht, wie sehr ich ihn mochte.
Realität
Glauben Sie nicht zu fest daran.
Fiktion
Ein fester Teil der Realität.
Literaturkritiker
Neulich hat die New York Review of Books ein Faksimile ihrer ersten Ausgabe vor fünfzig Jahren publiziert. Über John Updikes „Centaur“, eines meiner Lieblingsbücher, heißt es, es sei so schlecht, dass der Ruf des Autors sich nicht davon erholen werde. Über Salinger, er sei eigentlich gar kein Schriftsteller. Hemingway wird auf fast jeder Seite beschimpft. So viel Wut, so viele Fehlurteile, so folgenlos, warum eigentlich?
Deutschsprachiges Regietheater
Eine Domäne lauter, oft übergewichtiger Männer in schwarzer Uniform, die erfolgreich den Autor vom Theater verbannt haben; jetzt arbeiten sie an der Verbannung des Schauspielers. Wird im Ausland nicht verstanden. Im Inland eigentlich auch nicht.
Die Simpsons
Ein Meisterwerk, das weiß heute schon jeder. Hat aber gedauert. Mitte der neunziger Jahre wurde man noch seltsam angesehen, wenn man Leuten empfahl, eine Zeichentrickserie anzusehen.
Die Sopranos
Eines der größten erzählerischen Kunstwerke unserer Epoche. So gut wie die allerbesten zeitgenössischen Romane.
Computerspiele
Theoretisch ein interessantes Thema, in der Praxis meist fantasielos und öde. Sie sind inzwischen so teuer in der Entwicklung, dass kaum jemand Experimente wagt.
Internetsperrprogramm „Freedom“
Lässt sich leicht überlisten. Wechseln Sie das Benutzerkonto, schon kommen Sie wieder ins Netz. Schade.
Edward Snowden
Mit jeder seiner öffentlichen Äußerungen bewundere ich ihn mehr: Er hat eine Weltmacht herausgefordert, er war im Recht, und er hat bisher keine Fehler gemacht.
Freiheit
Nietzsche sagt, die entscheidende Frage ist nicht, wovon man frei ist, sondern wofür. Das klingt gut, aber ich weiß trotzdem nicht, was das wirklich heißen soll.
Wien
Eine schöne Stadt, wenn man nicht zu lange dort bleibt.
Berlin
Eine nicht sehr schöne Stadt, die allerdings andere Vorteile hat. Ich hoffe übrigens, der elende Brandenburger Flughafen lässt noch ein wenig auf sich warten.
Heimat
Braucht ein wurzelloser Kosmopolit nicht unbedingt.
Vater sein
Eine große, schwere, wunderbare Aufgabe.
Frauen
Der klügere und interessantere Teil der Menschheit, über den ich noch zu wenig geschrieben habe. Vielleicht weil das auch schwieriger ist.
Männer
Was ich an Frauen allerdings nie begreifen konnte, ist, wie sie es ertragen, mit Männern zusammenzuleben.
Schönheit
Schwebt immer über uns, in Gestalt von Himmel, Wolken, Sonne, und wir sehen kaum je hin, weil wir glauben, daran gewöhnt zu sein.
Liebe
David Foster Wallace hat gesagt, man solle aus dem Teil seines Selbst heraus schreiben, der liebt, nicht aus dem Teil, der geliebt werden will. Ein sehr guter, schwer zu befolgender Rat.
Erotik
Etwas, das Literaturkritiker gerne einfordern. Finden sie es, nennen sie es peinlich.
Sex
Dürfen Schriftsteller über fünfzig jetzt auf keinen Fall mehr beschreiben. Man nennt das sonst eklige Männerfantasie.
Seitensprung
Ein Hauptthema der Literatur. Was soll ich dazu sagen? Wollen Sie mich in Schwierigkeiten bringen?
Geld
Wer behauptet, dass Geld nicht frei macht, hat über die Frage noch nicht nachgedacht.
Erfolg
Wenn man ihn hat, ist es schlecht für einen. Wenn man ihn nicht hat, ist es auch schlecht.
Missgunst
Früher habe ich gedacht, das wäre ein überschätztes Phänomen. Dann schrieb ich einen Bestseller, jetzt weiß ich es besser.
Macht
Vielleicht das Schönste am Künstlerdasein: Man hat sie nicht, man will sie nicht, man braucht sie nicht, man hat nichts mit ihr zu schaffen.
Kapitalismus
Nicht die einzige Möglichkeit.
Angela Merkel
Ich mag sie, aber wählen würde ich sie nicht.
Bertolt Brecht
Einer der größten deutschen Sprachschöpfer. Ich habe vor Jahren bei einem Brecht-Festival darüber gesprochen, wie sehr es mich betroffen macht, dass er im großen Bürgerkrieg zwischen russischer Regierung und russischem Volk aufseiten der Regierung stand; seither gelte ich absurderweise als Brecht-Feind. Ich kann etwa fünfundzwanzig Gedichte von ihm auswendig.
Utopien
Werden zurzeit leider hauptsächlich von Google und Facebook angeboten.
Humor
Im Unterschied zu meinem Freund Maxim Biller glaube ich nicht, dass Gott welchen hat.
Träume
Es gibt einen langen Traum, und es gibt kurze Träume, die ihn unterbrechen. Sonst gibt es eigentlich nichts.
Sehnsucht
Immer, oft weiß ich gar nicht, wonach.
Ängste
Immer, oft weiß ich gar nicht, wovor.
Geheimnisse
Sollte man haben. Die transparente Welt ist zwar die offizielle Google- und Facebook-Utopie, aber wir müssen widerstehen.
Feinde
Ein Künstler hat gottlob nur Leute, die auf ihn schimpfen, echte Feinde hat er sehr selten.
Glück
Bemerkt man erst, wenn es vorbei ist.
Luxus
Was heute Luxus ist, ist morgen Gewohnheit. Die Reizschwelle steigert sich. Das meint Buddha, wenn er sagt, dass alles Entstandene leer ist und nicht genügt. Aber Bedürfnislosigkeit ist auch keine gute Lösung. Ich gehe weiterhin gerne gut essen.
Hoffnungen
Da ich beim deutschen Theater wegen Regisseurkritik keine Chance habe, hoffe ich, dass irgendwann ein Stück von mir am Broadway aufgeführt wird. Träumen darf man doch.
Lebensmotto
Wer hat denn so etwas, um Gottes willen?!?
Älterwerden
Ich merke, dass mein Gedächtnis vor zehn Jahren noch besser war. Sehr gruselig.
Glauben
Lieber nicht.
Gott
Wie gesagt: Im Unterschied zu Maxim Biller glaube ich nicht, dass Gott Humor hat. Menschen haben Humor entwickelt, um es ein wenig besser auszuhalten, wenn Gott sie quält.
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