Interview Schulpraktikerin Thoms: "Keiner weiß, was Inklusion ist"
Eva Thoms organisiert "Eine Schule für Alle" - und ärgert sich über Politikersprechblasen. Tatsächlich würde von der Politik alles getan, um möglichst gar nichts ändern zu müssen.
taz: Frau Thoms, Sie veranstalten nach 2007 erneut einen großen Kongress "Eine Schule für Alle". Warum das - die Bundesländer sind doch offen für gemeinsames Lernen?
Eva-Maria Thoms: Ich fürchte, wir brauchen noch viele Kongresse dieser Art. Zwar können Politiker das Wort Inklusion inzwischen fehlerfrei aussprechen. Aber ich zweifle, dass sie tatsächlich ein inklusives Bildungssystem wollen.
Was ist der Unterschied zwischen gemeinsamem Lernen und Inklusion?
gehört Mittendrin e. V. an, der sich um die Integration behinderter Kinder kümmert. Thoms ist Mitinitiatorin von "Eine Schule für Alle".
Inklusion würde heißen: Wir verabschieden uns von der Konstruktion des "Regelkindes", das in der Gruppe im Gleichschritt unterrichtet wird. Wir sehen jetzt jedes Kind als Individuum und als Bereicherung. Jedes Kind, ob mit oder ohne Behinderung, hat andere Talente und lernt in einem anderen Tempo. Bislang empfinden Schulen Kinder mit Behinderung als Belastung, weil man für sie ein Sonderprogramm fahren muss.
Sind die Schulen denn schon so weit?
Nein, in den Schulen wiederum ist die ganze Diskussion noch gar nicht angekommen. Die meisten Lehrer ahnen nicht, dass sie schon bald Kinder und Jugendliche mit Behinderung in ihren Klassen vorfinden werden. Und sie wissen schon gar nicht, wie in einer Klasse mit so unterschiedlichen Schülern der Unterricht ablaufen soll. Es fehlt an Fortbildungen - der beste Beweis, dass die Länderregierungen vor allem Wortgeklingel von sich geben.
Aber Sie können nicht abstreiten, dass verschiedene Landesregierungen etwas dafür unternehmen.
Rhetorisch vielleicht. Nehmen Sie die Landesregierung in Düsseldorf: Ein Dreivierteljahr lang war die UN-Konvention …
… über die Rechte behinderter Menschen, die fordert Sonderschulen aufzulösen …
… genau diese Konvention war im Haus von Schulministerin Barbara Sommer so etwas wie ein Tabu. Der Landtag diskutierte das Thema rauf und runter - die Ministerin schwieg. Im Herbst kam urplötzlich der Richtungswechsel, die neue Lieblingsformel war ein sogenanntes Elternwahlrecht. Aber seit mehr als einem Jahr hat das Ministerium kein einziges Papier vorgelegt, wie der Wechsel zu einem inklusiven Bildungssystem im Gesetz und im Haushalt aussehen soll. Es ist nichts passiert. Gar nichts. Gleichzeitig wird es wieder Zwangszuweisungen zu Sonderschulen geben. Es werden sogar neue Sonderschulen gebaut.
Warum tun die das?
Ich erkläre mir das als Versuch, sich vor der Landtagswahl im Mai das Thema nicht aus der Hand nehmen zu lassen.
Baden-Württemberg hat ein Elternwahlrecht eingeführt. Und selbst der Chef der Kultusminister, Ludwig Spaenle, will die Inklusion zum Thema seiner Präsidentschaft.
Das ist substanzlose Rhetorik. Da wird die Fahne der Inklusion gehisst, um gute Schlagzeilen zu haben. Tatsächlich wird alles getan, um möglichst gar nichts ändern zu müssen. Den Eltern in Baden-Württemberg werden - für jedes einzelne Kind mit Behinderung - sogenannte Bildungswegekonferenzen vor die Nase gesetzt, in denen Experten und Verwaltungsleute beraten, wo das Kind zur Schule gehen soll. Unter deren Vorschlägen dürfen die Eltern dann wählen - wenn keine Regelschule dabei ist, dann haben sie eben Pech gehabt. Da wird Inklusion mit einem unglaublichen bürokratischen Aufwand verhindert.
Und Spaenle?
Der hat sich seinen ganz eigenen Begriff von Inklusion geschaffen: die bayerischen Außen- und Kooperationsklassen. Er will die bayerischen Schulen mit Behindertenklassen überziehen, die getrennt von den Regelkindern lernen. Das gibt eine prima Statistik, aber mit einem gleichberechtigten Zugang zu allgemeiner Bildung, wie ihn die UN fordern, hat das nichts zu tun.
Wie schnell kann man Schulen umbauen?
Ich würde vorschlagen, das Jahrgang für Jahrgang zu machen.
Was soll mit den sogenannten Förderschulen geschehen?
Der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems ist ein Prozess. Wenn die Schulen wirklich inklusiv sind, wird sich niemand mehr nach den Sonderschulen zurücksehnen. Ich habe damit angefangen, um das Recht auf Selbstbestimmung für meine eigene Familie zu kämpfen. Von daher tue ich mich schwer, andere Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Eins ist aber klar: In den Regelschulen, wie sie heute sind, sind seltene und schwierige Förderbedürfnisse nur durch einen unaufhörlichen Kampf der Eltern durchsetzbar. Die Menschen ahnen gar nicht, wie viel Kraft das kosten kann, sein Kind in die Schule zu bringen!
Wie wollen sie verhindern, dass die Länder Inklusion als Sparmodell nutzen?
Durch öffentlichen und politischen Druck. Ich würde mir wünschen, dass wir dabei auch auf die Unterstützung der Sonderschuleltern und der Normalo-Eltern rechnen könnten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis