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Interview 120 Jahre Deutsche Grammophon„Rhythmusverschiebung, hören Sie?“

Clemens Trautmann hat in New York Klarinette studiert und als Jurist bei Springer gearbeitet. Jetzt leitet er das älteste Musiklabel der Welt – und feiert Britney Spears.

Clemens Trautmann Foto: Murat Türemiş
Interview von Andreas Hartmann

taz: Herr Trautmann, bevor Sie Manager und Präsident des berühmtesten Klassiklabels der Welt wurden, waren Sie Profimusiker auf der Klarinette. Können Sie es noch?

Clemens Trautmann: Die Frage stelle ich mir auch jedes Mal. Aber am Ende ist es halt doch wie Fahrrad fahren. Man braucht eine Grundfitness als Musiker. Und die habe ich, weil ich am Wochenende noch regelmäßig meine Klarinette auspacke. Wenn ein Konzert ansteht, übe ich auch unter der Woche. Das geht am besten morgens vor der Arbeit, weil ich abends doch meist Verpflichtungen habe, entweder Geschäftsessen oder natürlich Konzertbesuche mit unseren Künstlern.

Hat man als ehemaliger Profi, für den das Konzertieren jetzt nur noch ein Hobby ist, nicht immer noch einen ungeheuren Anspruch an sich selbst, den man vielleicht gar nicht mehr erfüllen kann?

Ich hoffe, dass ich die Sensibilität habe zu spüren, wann es vielleicht nicht mehr ausreichend ist, was ich abliefere. Natürlich komme ich nicht so viel zum Üben wie andere Kollegen, die regelmäßig Konzerte geben, deswegen ist Selbstkritik wichtig. Außerdem darf man bei allen eigenen musikalischen Projekten nie vergessen, dass ich in erster Linie in einer dienenden Funktion gegenüber unseren Künstlern stehe.

Was spielen Sie so?

Natürlich das Standardrepertoire für Klarinette, das etwa Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt. Die großen Klarinettenwerke von Mozart, Weber, Schumann, Brahms und Debussy und wie sie alle heißen. Ich habe aber auch immer sehr viel Avantgarde gespielt, das war mir wichtig. Werke von Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen. Und Uraufführungen, etwa von Komponisten wie Manfred Trojahn, Birke Bertelsmeier, Akira Nishimura oder Sven-Ingo Koch.

Nicht jeder Klassikfreund schätzt die sogenannte Neue Musik. Auch nicht jeder klassische Musiker.

Aus meiner Sicht gehört für einen Musiker diese Offenheit unabdingbar dazu. Genauso wie man versuchen sollte, über das Genre der klassischen Musik hinaus zu denken. Eine Zeit lang habe ich deswegen intensiv Klezmer gespielt. Meine damalige Klarinettenlehrerin war mit Giora Feidman befreundet, dem berühmten Klezmer-Klarinettisten. Auf diese Weise durfte ich Feidman immer wieder begegnen und bekam auch Unterrichtsstunden von ihm.

Im Interview: Clemens Trautmann

Der Mensch Clemens Trautmann ist Musiker, promovierter Jurist, Manager und seit drei Jahren Präsident des weltberühmten Klassiklabels Deutsche Grammophon. Trautmann ist in Braunschweig geboren und 41 Jahre alt. Er hat an der Musikhochschule Lübeck und der Juilliard School New York Klarinette studiert. Vor allem als Solist und Kammermusiker war er mehrere Jahre lang Profimusiker im Bereich der klassischen Musik. Von 2009 bis 2015 war er in verschiedenen Führungspositionen für den Axel Springer Verlag tätig, zuletzt als Büroleiter des Vorstandsvorsitzenden sowie seit Anfang 2013 als Geschäftsführer und Chief Financial Officer der Springer-Mehrheitsbeteiligung Immonet.

Das Label Gegründet wurde die Deutsche Grammophon am 6. Dezember 1898 in Hannover. Sie war das erste Musiklabel weltweit. Später war sie über 50 Jahre lang in Hamburg ansässig, seit sieben Jahren hat sie ihren Sitz in Berlin. Rund um den hundertundzwanzigsten Geburtstag wird es noch weit ins Jahr 2019 hinein verschiedene Jubiläumsveranstaltungen geben. (aha)

Ist Klezmer nicht ein wenig wie Blues? Man muss ihn spüren, oder?

Ja, man muss ihn spüren. Als klassischer Musiker ist man daran gewöhnt, mit Noten zu arbeiten. Da ist es ein Schockmoment, wenn auf einmal nichts auf dem Papier steht und Du in der Klezmercombo eine Improvisation, ein Solo darbieten musst. Für einen klassischen Musiker ist es eine riesige Herausforderung, nicht nach notierter Musik zu spielen.

Aber irgendwann geht es?

Das zu erlernen ist ein Prozess. Wenn man seine erste Improvisation abliefert, fühlt man sich noch völlig schutz- und hilflos. Aber das ändert sich schnell. Man erobert sich langsam Räume und Freiheiten.

Spielen Sie auch heute noch Klezmer?

Es gibt ja den schönen Satz: „Eine Hochzeit ohne Klezmer ist wie eine Beerdigung ohne Tränen.“ Wenn ich bei Freunden zur Hochzeit eingeladen bin und ein Ständchen erwünscht ist, dann spiele ich gerne Klezmer.

Wie ging das alles überhaupt los zwischen Ihnen und der Musik?

Mein Vater war Ingenieur, meine Mutter Kauffrau. Mein familiärer Hintergrund könnte, zumindest auf dem Papier, der Musik gar nicht ferner sein. Und es war durchaus nicht so, dass es meinen Eltern finanziell leicht fiel, meiner Schwester und mir Musikunterricht zu ermöglichen. Was im Elternhaus jedoch vorhanden war, das war eine große Liebe zur Musik, die sehr zwanglos an uns weitergegeben wurde.

Die Musik wurde Ihnen seitens der Eltern also schon nahegelegt?

Sie haben Möglichkeiten eröffnet. Innerhalb dieses Rahmens hatten wir totalen Freiraum. Was freilich gesetzt war: Wenn wir schon Klarinetten- oder Klavierunterricht bekamen, dann musste der auch wahrgenommen und es musste geübt werden. Ob wir allerdings fünf Minuten oder fünf Stunden am Tag übten, das überließen unsere Eltern uns. So an die Musik herangeführt zu werden, das war für mich perfekt. Und so, ohne Druck zu erzeugen, würde ich das auch an meine Kinder weitergeben, wenn ich welche hätte.

Der Job als Präsident der Deutschen Grammophonist die perfekte Synthese aus allen losen Enden meiner Biografie

Geht das denn: Es ohne viel Druck zum Profimusiker zu schaffen?

Viele Musikerfreunde, die unter immensem Druck der Eltern oder ihres Umfelds standen, haben entweder aufgehört oder sind daran zerbrochen. Nur wenige können Druck in etwas Positives verwandeln.

Ab wann war Ihnen klar, dass Sie das Spielen auf der Klarinette auch zu Ihrem Beruf machen könnten?

Dass es mal ernster werden würde mit mir und der Klarinette, hat sich erst kurz vor meinem Abitur herauskristallisiert. Ich hatte auch damals schon eine ganze Menge anderer Interessen neben der Musik. Die musste ich dann natürlich zurückstellen. Weil ich wusste: Für die Musik gibt es nur dieses eine Fenster. Da kann ich jetzt nicht erst einmal vier Jahre lang BWL, Theologie oder sonst was studieren und dann wieder ins Konzertleben zurückkehren. Diese Chance, mit der Musik als Profi weiterzumachen, die bot sich nur einmal.

Noch während Ihrer Zeit als Profimusiker haben Sie damit begonnen, Jura zu studieren. Haben sich Ihre anderen Interessen irgendwann doch bei Ihnen zurückgemeldet?

In meinem Hinterkopf war immer, dass die Musik in sich zwar ein Kosmos ist. Dass da draußen aber noch viele andere Welten liegen, die spannend sind und die es zu entdecken gilt.

Dabei haben Sie im Alter von 20 Jahren an der renommierten Juillard School in New York Musik studiert. Sagt man sich da nicht: Okay, das ist es, ich hab’s geschafft?

Selbst wenn man mit 20 in New York leben und arbeiten kann, hat man eigentlich noch gar nichts erreicht. Um als Klarinettist langfristig seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, hat man typischerweise zwei Optionen: Orchestermusiker zu werden oder zu unterrichten, entweder an der Musikschule oder am Konservatorium. Als Pädagoge wäre ich viel zu ungeduldig gewesen, das war mir gleich klar. Orchestermusiker hätte mich vielleicht gereizt, ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass ich das 30 oder 40 Berufsjahre mit derselben Euphorie weitermachen könnte.

Sie haben sehr viel Kammermusik gespielt, um sich dann in Hamburg für ein Jura-Studium einzuschreiben. Sie haben in dem Fach sogar promoviert. Warum sind Sie nicht als Jurist tätig geworden?

Um ein Haar wäre ich wirklich in der Jurisprudenz gelandet. Ich hatte die Option, nach meiner Promotion zu habilitieren. Letztlich habe ich mich dann aber doch für einen weniger seriösen Weg entschieden. Das Alternativangebot zur wissenschaftlichen Karriere war die Vorstandsassistenz bei Mathias Döpfner im Axel Springer Verlag. Und das habe ich auch begeistert angenommen. Ich wollte einfach erneut etwas ganz anderes ausprobieren.

Mathias Döpfner war mal Musikkritiker bei der FAZ. Gab es zwischen Ihnen und Ihrem Chef auch eine Verbindung durch die Musik?

Sicher, es gab diese Verbindung, wobei sie im Arbeitsalltag höchstens indirekt zum Tragen gekommen ist. Wir haben vielleicht zwei Mal im Jahr über Musik gesprochen. Über digitale Transformation dagegen täglich.

Seid drei Jahren sind Sie nun Präsident der Deutschen Grammophon. Für diesen Job erscheint Ihre bunte Biografie geradezu ideal.

Man könnte vielleicht sagen: Der Job ist die perfekte Synthese aus allen losen Enden meiner Biografie.

Leicht ist es aber nicht, so ein traditionsreiches Klassiklabel durch die andauernde Krise der Musikindustrie zu manövrieren, oder?

In der Musikindustrie insgesamt gibt es in Deutschland wieder ein leichtes Wachstum. Aber die klassische Musik ist noch nicht Teil dieses Trends.

Warum ist das so?

Das liegt im Wesentlichen daran, dass unsere Kernzielgruppe, die so im Schnitt 35, 40 Jahre und älter ist, noch nicht so konsequent auf digitale Plattformen wechselt. In der Popwelt ist die 50-Prozent-Marke inzwischen überschritten zu Gunsten von Streaming. In der klassischen Musik werden in Deutschland dagegen noch 80 Prozent der Umsätze mit physischen Tonträgern gemacht. Die Deutsche Grammophon will ein Motor der Digitalisierung sein, und tatsächlich wachsen wir im Streaming viermal so stark wie der Markt. In den USA sind schon 80 Prozent des klassischen Musikkonsums digital, wovon wir als internationales Label stark profitieren.

Klassik hören per Algorithmus. Ein Stück von Mozart, danach vielleicht ein seichter Popsong. Sind Streaming-Plattformen nicht ein Grauen für jeden ernsthaften Klassikliebhaber?

Insgesamt sehe ich für die klassische Musik auf diesen Plattformen eher Chancen als Risiken. Anders als in der physischen Welt, wo die Klassikabteilung doch eher im zweiten Untergeschoss in der hintersten Ecke des Kaufhauses zu finden war, ist es jetzt viel einfacher, klassische Musik zu entdecken. Und man musste in der analogen Ära viel investieren für diese Entdeckungen. 15 bis 20 Euro für ein Album, ohne zu wissen, ob einem das auch wirklich zusagt. Durch ein Abomodell, wie bei den Streaming-Plattformen, wird es für klassische Musik einfacher, dass sich Leute auf sie einlassen. Der Einstieg über die Stimmung, statt über das Genre, kann dabei durchaus helfen.

120 Jahre alt ist die Deutsche Grammophon jetzt. Ein wenig Patina hat das Label schon angesetzt, oder?

Ich glaube, wir Deutschen könnten auf die Marke Deutsche Grammophon ruhig etwas stolzer sein. Es gibt nicht allzu viele Marken, die diesen Weltruf haben. Und deren visuelles Erscheinungsbild vielerorts in die gesprochene Sprache übergegangen ist: „The Yellow Label“. Wenn ich im Ausland unterwegs bin, ist die Wertschätzung für die Deutsche Grammophon um einiges größer als im eigenen Land. Etwa in Frankreich und Italien, vor allem aber in Asien, wo das gelbe Label beinahe gleichbedeutend ist mit klassischer Musik.

Anders als in der physischen Welt, wo die Klassikabteilung doch eher im zweiten Untergeschoss in der hintersten Ecke des Kaufhauses zu finden war, ist es jetzt viel einfacher, klassische Musik zu entdecken

Waren Sie deswegen zum Jubiläum gerade auf großer Label-Tour in Asien?

Deswegen, und auch, weil die Zahl 120 in Asien eine besondere Bedeutung hat und kulturell aufgeladen ist. 60 Jahre gelten als Lebenszyklus. Den haben wir also schon doppelt vollendet. Das mit unseren Künstlern bei einem Konzert im alten Kaiserpalast, der Verbotenen Stadt, in Peking feiern zu dürfen, bleibt unvergesslich.

Die Deutsche Grammophon wird wohl auf ewig eng mit dem Namen Herbert von Karajan verbunden bleiben. Behindert der nicht mehr ganz zeitgemäß wirkende Geniekult, der um Karajan entstanden ist, die Modernisierung des Labels?

Die Deutsche Grammophon hat mit Herbert von Karajan rund 405 Stunden Musik produziert, wie wir kürzlich recherchiert haben. Also ja, Karajan gehört sehr stark zu unserer Historie. Das ist ein unglaublicher Schatz, der das Label ästhetisch mitdefiniert hat.

Da auf dem Tisch in Ihrem Büro steht die Karajan-Gesamtausgabe. Ganz schön groß.

Ich plädiere natürlich dafür, diesen Schatz zu pflegen und auch durch Storytelling bei Instagram einer jüngeren Generation näher zu bringen. Zugleich werden andere spannende und teils konträre künstlerische Entwicklungen und Positionen, die es bei uns gab und gibt, durch die überlebensgroße Figur Karajans etwas verdeckt. Zum Beispiel, dass die Deutsche Grammophon historisch auch für elektronische oder minimalistische Musik eine wichtige Heimat war. Stockhausens „Gesang der Jünglinge“, Steve Reichs „Drumming“ oder das 1. Violinkonzert von Philip Glass mit Gidon Kremer hatten beispielsweise bei uns ihr Debüt. Das sind Traditionsstränge, an die wir heute etwa mit Max Richter anknüpfen können. 2018 haben wir auch das Leonard-Bernstein-Jahr gefeiert. Das hat geholfen, auf sein unglaublich facettenreiches Schaffen neu aufmerksam zu machen.

Karajan gilt als einer der Väter der CD. Er wollte unbedingt einen Tonträger, auf den Beethovens Neunte Symphonie passt, ohne dass man dafür eine Schallplatte umdrehen müsste. Nun verschwindet die CD langsam vom Markt. Hat uns Karajan ein Format beschert, das sich bald als historischer Irrtum herausstellen wird?

Sollte sich die CD im Nachhinein als historischer Irrtum erweisen, so war sie doch ein sehr wirkungsmächtiger und auch kommerziell relevanter Irrtum. Die 80er und 90er Jahre waren eine unheimliche Boomphase für die Musikindustrie, weil alle Vinyl-Kataloge neu ediert wurden und Einspielungen speziell für CDs vorangetrieben wurden. Was in dieser Phase künstlerisch entstanden ist, möchten wir nicht mehr missen. So manche aufwändige Referenzaufnahme wäre ohne diesen Boom gar nicht möglich gewesen.

Wir haben jetzt sehr viel über klassische Musik gesprochen. Herr Trautmann: Haben Sie auch einen Zugang zum Pop?

Okay, jetzt wird es gefährlich. Tatsächlich bin ich in dem Bereich eher bei älterer Musik unterwegs. Ich habe beispielsweise eine große Schwäche für Janis Joplin. In ihrer Musik ist etwas Existenzielles spürbar. Da ich bei Universal Music auch den Jazz verantworten darf, spielt das Genre auch privat eine große Rolle für mich. Und ich habe ein paar „guilty pleasures“.

Jetzt wird es interessant.

Ich finde, die Musik von Britney Spears ist einfach gut produziert. Das ist handwerklich verdammt gut gemachte Popmusik. Nehmen Sie „Oops!… I Did It Again“ und „Baby One More Time“. Da passieren unheimlich spannende Sachen, die die allermeisten vielleicht gar nicht bewusst wahrnehmen. In „Oops! I Did It Again“ wird an einer Stelle der Rhythmus effektvoll verschoben. Und in „Baby One More Time“ wird es am Ende polyphon.

Ach ja?

(Streamt zuerst „Baby One More Time“ und danach „Oops!…I Did It Again“) Hier: Eine Art Kanon. Der Chor singt fast dasselbe wie Britney, aber um einen Takt versetzt. Und während es normalerweise „Oops! … I did it again“ heißt, klingt es nach der Stelle mit dem Astronauten so: „Oops! I … did it again“. Mit der Betonung auf dem „I“. Hören Sie die Rhythmusverschiebung?

Ja, jetzt höre ich es auch.

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