Internetsteuer ausgesetzt: Ungarn bleiben online
Die Smartphone-Bewegung hat gesiegt: Regierungschef Orbán vertagt die Netzsteuer. Sind die Ungarn nun im Einklang mit dem Autokraten?
BUDAPEST taz | Die Rufe des Volkes sind bis ans Ohr von Viktor Orbán gedrungen. Nach einer Woche der Proteste gibt Ungarns Ministerpräsident nach. Die Internetsteuer werde in dieser Form vorerst nicht eingeführt, kündigte er in seinem wöchentlichen Freitagmorgeninterview an.
„Wenn das Volk etwas nicht nur nicht mag, sondern es auch für unvernünftig hält, sollte es nicht gemacht werden“, sagte er. Schließlich sei er „kein Kommunist“. Für Mitte Januar stellte er eine „Nationale Konsultation“ über das Internet in Aussicht, denn das Internet generiere einen riesigen Profit, und es wäre sinnvoll, einen Teil davon im Land zu halten.
Der Regierung Orbán geht es allerdings nicht nur um Geld, sagen Kritiker in Ungarn und im Ausland. Der selbstherrlich regierende Ministerpräsident will vor allem politische Gegner und kritische Medien zum Schweigen bringen. „Ein Muster ungarischen Regierungshandeln“ sah die EU-Kommissarin Neelie Kroes in der geplanten und nun verschobenen Internetsteuer.
Den Aufschub haben sich die Ungarn erkämpft. Mehrere Tausend Menschen sind ab Sonntag vergangener Woche in Budapest auf die Straße gegangen, bis zum Dienstag verbreitete sich die Protestwelle bis Szeged, Pécs, Miskolc, Debrecen und dutzend andere Städte im ganzen Land.
Internetsteuer betrifft alle
Früher hat er Opern komponiert, heute entwirft Ingolf Gabold Erfolgsserien wie „Borgen“ oder „The Killing“. Ein Gespräch über richtig gutes Fernsehen und wie man es macht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 1./2. November 2014. Außerdem: Wie eine Abgeordnete und ein Lobbyist um das Waffenrecht in einem US-Bundesstaat ringen. Und: Joschka Fischer im Interview. Am Kiosk, //taz.de/%21p4350%3E%3C/a%3E:eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Die Ungarn demonstrierten gleichzeitig gegen die weitere Einschränkung der Kommunikationsfreiheit und gegen die Orbán-Regierung. Die in Ungarn übliche politische Apathie wurde durchbrochen, denn die Internetsteuer betrifft alle Altersgruppen und alle sozialen Schichten.
„Es ist eine moralische Pflicht zu demonstrieren“, sagt eine Frau, so um die 50. Sie ist auf dem Weg zur Demo am Dienstagabend an der Elisabethbrücke in Budapest. „Das Internet ist ein Mittel freier Kommunikation, und das will unsere Regierung hiermit auch kontrollieren.“ Sie arbeitet in der kreativen Szene Budapests und möchte ihren Namen nicht nennen. Sie hat Angst, dass man ihr die Steuerbehörde vorbeischickt – die sanft-diktatorische Einschüchterungsmethode der Orbán-Regierung funktioniert.
In den dicht gedrängten Menschenmassen an der Elisabethbrücke marschieren die Generationen bunt gemischt. Junge Leute mit EU-Flaggen und Transparenten mit Botschaften wie „Freies Land, freies Internet“ und „Korruptionsfreie Steuerbehörde“.
Die Polizei ist überall – zwei Tage zuvor hatten Demonstranten das Hauptquartier von Orbáns Fidesz-Partei mit alten Computern beworfen. Einige Protestierende zerstörten dann auch die Ausrüstung des regierungstreuen Senders hír TV, und die Polizei konnte noch verhindern, dass sie die Journalisten angriffen.
Skypen gehört zur Kommunikation
Die ältere Generation demonstriert in vorderster Reihe. „Ich sehe meine Familie nur über Skype“, erklärt eine ältere Dame die Präsenz der Pensionäre. Ihre Enkelkinder leben im Ausland, wie inzwischen mehrere hunderttausend junge Ungarn. Sie hält ihr altes Handy hoch – gleichzeitig werden tausende Smartphones hochgehalten und erleuchten die Elisabethbrücke. Ein Sinnbild des Protests gegen die Internetsteuer. Immer wieder ertönen Parolen wie „Orbán, verschwinde!“ und „Europa, Europa“.
Die Sehnsucht nach Europa wird lauter während der gefühlten Zeitreise Ungarns in die Vergangenheit, die sich unter Orbán abspielt. Der Parlamentspräsident László Kövér erwog am Tag vor der Kundgebung gegen die Internetsteuer einen möglichen Austritt aus der EU. Schon nach den Neuwahlen im Mai hielt er es nicht für notwendig, dass eine EU-Fahne am ungarischen Parlament hängt – zurzeit weht dort nur die ungarische Flagge und die Szekler Fahne der ungarischsprachigen Volksgruppe im rumänischen Siebenbürgen.
Ein Teil der Menschen geht aus der Demonstration zum Parlament und will dort die EU-Fahne aufhängen. Die Polizei versucht das zu verhindern, der Adrenalinpegel steigt. Die junge Politikerin Agnes Kunhalmi von der sozialdemokratischen MSZP rettet die Situation, als sie und ihre Kollegen mit großen EU-Fahnen aus dem Fenster des Parlamentsgebäudes winken.
Am Ende der Kundgebung singen die Demonstranten die ungarische Hymne am Clark-Ádám-Platz vor der Kettenbrücke am Null-Kilometer-Stein, der einem historischen Nationaldenkmal gleichkommt. Die Demonstranten wollen ein Symbol setzen. „Die Fidesz-Regierung hat den Ungarn die Nationalgefühle, die Musik und die Tradition enteignet“, sagt ein 40-jähriger deutsch-ungarischer Klavierlehrer. Die Demonstranten würden zeigen, dass jeder ein Recht darauf hat – unabhängig von seiner politischen Einstellung.
Orbáns Vorbild Russland
Die Atmosphäre in Ungarn war bereits vor den Demonstrationen angespannt. Die Orbán-Regierung mangelt es nicht an Selbstbewusstsein, und sie hat die Bevölkerung auf unterschiedliche Weise gegen sich gestimmt. Ungarns Öffnung nach Osten, die Abwendung von der liberalen Demokratie, die Dämonisierung von Bürgerinitiativen und die Einschränkung der Medienfreiheit haben das ganze Jahr über zur Unzufriedenheit beigetragen.
2014 fing mit einer Annäherung an Russland an – Ungarn soll sein Atomkraftwerk in Paks mit einem russischen Kredit weiter ausbauen. Im Juli verkündete Premierminister Orbán, dass der ungarische Staat sich nicht weiter an liberale Werte halten werde, sondern sich lieber an Vorbildern wie Russland, China und der Türkei orientiere.
Im Sommer musste auch der verantwortliche Chefredakteur des kritischen Nachrichtenportals Origo gehen, das einer Tochterfirma der Deutschen Telekom gehört. Der Vorfall ereignete sich, unmittelbar nachdem das Portal aufgedeckt hatte, dass Viktor Orbáns Kanzleichef, János Lázár, in einen Spesenskandal verwickelt war.
Des Weiteren sorgten die Sondersteuer für Medien für Aufregung im Land. Geradezu Unbehagen bereitet den Ungarn allerdings die Einreisesperre in die USA für sechs regierungsnahe ungarische Personen wegen Korruptionsvorwürfen, die Mitte Oktober bekannt wurde.
Hochrangige Fidesz-Mitglieder dagegen
Mangels konkreter Informationen bleibt Raum für Spekulationen: Eine der Betroffenen könnte die Chefin der Steuer- und Zollbehörde (NAV), Vida Ildikó, sein. Sie äußerte sich bisher nicht zu den Vorwürfen. Die Reaktionen auf den ziemlich einmaligen Vorgang wirken von Regierungsseite wahlweise zynisch oder naiv. Die Regierung Orbán erwarte eine Erklärung von den USA, die momentan aus Persönlichkeitsrechtsgründen keine weiteren Auskünfte gibt.
In dieser geladenen Stimmungslage entfachte am 21. Oktober die Meldung über die geplante Einführung einer Internetsteuer ein Feuer. Gleich am ersten Tag modifiziert, hätte die monatliche Rate für Privatpersonen etwa 2,30 Euro, für Firmen rund 16 Euro betragen sollen. Orbán wollte seinen Plan durchsetzen, ohne vorher die Internetanbieter oder gar seine eigenen Parteileute konsultiert zu haben – selbst hochrangige Mitglieder seiner Fidesz-Partei kritisierten den Plan.
Ganz zurückziehen kann Viktor Orbán sein Vorhaben nun nicht. Schließlich will er sein Gesicht nicht verlieren. Aber selbst wenn es schließlich eine sehr abgeschwächte Internetsteuer, vielleicht unter einem anderen Namen geben sollte, macht die Dynamik dieser Protestbewegung Hoffnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Die Linke im Bundestagswahlkampf
Kleine Partei, großer Anspruch
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich