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Vom Schwindel ergriffen

Das Theater als Diskurs- und Lehranstalt: Das ist manchmal etwas angestrengt und unvermittelt auf der Biennale Wiesbaden. Manchmal aber sehr berührend und überraschend

Jeremy Nedd, „How a Falling Star Lit up the Purple Sky“ Foto: Philip Frowein, Wiesbaden Biennale

Von Shirin Sojitrawalla

Kurz vor Schluss der Theater-Biennale in Wiesbaden, am kommenden Samstag, steigt die FLINTA* Party. Alle, die das googeln müssen, sitzen nicht fest im aktuellen Diskurssattel. In Wiesbaden sind das die meisten. Wie überhaupt alle Themen der diesjährigen Wiesbaden Biennale in der Stadt unterrepräsentiert sind: Postkoloniales, Queeres, Trashiges. Nachdem Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer 2016 und 2018 mit ihren Biennalen die Stadt auf den Kopf gestellt haben, dabei nicht nur in den Stadtraum, sondern auch in unterschiedliche Milieus vordrangen, setzt der neue Kurator Kilian ­Engels, der davor das Münchner Festival „Radikal jung“ leitete, auf drängende Themen.

Laut Selbstdarstellung des Festivals meint das: wachsenden Nationalismus, Rassismus und erstarkende imperialistische Politik und Kriegsführung, Afro-Feminismus, LGBTQ+, Diversität, Transgender, sexuelle Fluidität, Black Lives Matter, #MeToo, Klimawandel und anderes. So kommt es, dass die Architektin und Kulturwissenschaftlerin Tazalika M. te Reh zum Auftakt des Festivals das neobarocke Kitsch-Foyer des Theaters kritisch beäugt. Sie interessiert sich dabei weniger für die Ausgestaltung als für die gesellschaftlichen Implikationen der Bauweise. So haben nur Be­su­che­r:in­nen des Parketts und der ersten beiden Ränge einfachen Zugang zum Foyer. Die Gäste der günstigen Plätze im dritten Rang können von dort nicht mal in die Prachtfülle des ­Foyers schauen. Die Bauweise spiegelt die Hierarchie der Klassengesellschaft.

Keine neue Einsicht, doch war es gerade die koloniale Aufladung des 1894 von Wilhelm II eröffneten Baus, die Kilian Engels buchstäblich gereizt hat. Dem eurozentristischen Rahmen möchte er etwas entgegensetzen, Differenzen markieren.

Zum Auftakt bringt er Trajal Harrells Pandemie-Schlager „The Köln Concert“ mit Musik von Joni Mitchell und Keith Jarrett. Ein Abend, der allein schon der schwelgerischen Musik wegen wie eine tröstende Umarmung wirkt und damit einen sanften Einstieg ins Festival bietet. Später sind hinter dem Theater auf der Wiese des sogenannten Warmen Damms schlichte Parolen und Choreografien zu sehen. Das chilenische Performancekollektiv Lastesis ruft zu Widerstand gegen sexualisierte Gewalt auf. Für die Biennale haben sie Wiesbadenerinnen eingeladen, mitzumachen. Im Open-Air-Trubel der Eröffnung wirkt das eher angestrengt.

Die New Yorker Künstlerin River L. Ramirez indes lässt es kurz darauf unter dem Titel „Ghost Folk“ richtig krachen. Böse-Buben-Rock und schräge Geschichten vereint sie mit ihren Musikerinnen zu einer tosend selbstbewussten Show. In ihren Texten geht es auch um die eigene Verletzlichkeit, die hinter rotziger Attitüde rinnt.

Joseph Beuys’„Zeige deine Wunde“ könnte als Motto dieser Biennale dienen. In „Whitewashing“ sehen wir der aus der Karibik stammenden und in Frankreich aufgewachsenen Performerin Rébecca Chaillon zu, wie sie vor uns auf allen Vieren eine niveaweiße Plane schrubbt und sich nach und nach ihrer Klamotten entledigt. Ihr nackter Körper ist mit weißer Creme bedeckt. Ihre Co-Performerin Aurore Déon, mit weißem Häubchen auf dem Kopf, feudelt derweil den Stuck und die nackten weißen Frauenskulpturen des Foyers ab und schlägt damit einen Bogen zum Eröffnungsvortrag. Später hilft sie Chaillon vordergründig, ihren Körper von Farbe zu befreien; im Grunde geht es um das Ausstellen eines raumgreifenden, schwarzen Frauenkörpers, der in mehrfacher Hinsicht diskriminiert wird. Es folgt ausgedehntes Zöpfeflechten, wobei Chaillon keck mit dem Publikum interagiert, später sich selbst entlarvende Kontaktanzeigen vorliest, in denen etwa alte Männer nach schwarzen jungen Frauen zwecks großer Liebe suchen. Zum Totlachen, wenn es nicht wahr wäre.

Joseph Beuys’„Zeige deine Wunde“ könnte als Motto dieser Biennale dienen

Der Abend hält noch weitere Wendungen bereit, die bis ins Herz der Finsternis unserer Gegenwart führen. Aus der dichten Dunkelheit gleich in die nächste Vorstellung zu hetzen, fällt schwer. Im Kleinen Haus wartet aber schon der koreanische Performer Jaha Koo mit „The History of Korean Western Theatre“, einer autofiktionalen Performance, die sich mit westlichen und östlichen Theatertraditionen beschäftigt und dem, was gemeinhin als modern gilt. Auch das koreanische Theater werde weitestgehend vom westlichen Kanon bestimmt, erläutert er. Koo entwickelt daraus seine ganz eigene Form der dokumentarischen Performance.

Einem größerem Publikum wurde Koo mit seiner bezaubernden Arbeit „Cuckoo“ bekannt, benannt nach dem beliebten Reiskocher, der in koreanischen Haushalten die tägliche Ration Reis herstellt. Das Ding sieht aus wie ein zu niedriger R2-D2, der süße Roboter aus „Star Wars“. Auch diesmal steht Cuckoo an Koos Seite, dazu gesellt sich eine digitale Origami-Schildkröte, die anschaulich Tradition und Moderne verknüpfend über die Bühne kriecht.

An elf Tagen, noch bis kommenden Sonntag, bietet die diesjährige Biennale mehr als 50 Veranstaltungen, darunter hochdekorierte, mit Silbernen und Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnete und woanders schon erfolgreich gezeigte Produktionen. Das kenia­nische Kollektiv „The Nest“, das auf der diesjährigen documenta eine der interessantesten Arbeiten vor der Orangerie zeigt, ist auch mit dabei.

Ein hochkarätiges Programm, dem trotzdem die Rahmung fehlt. Es gibt weder Publikumsgespräche noch ein Diskursprogramm, bei den verhandelten Themen und den sich oft nicht selbst erklärenden Arbeiten eigentlich ein Muss. So aber macht man sich auf alles seinen eigenen Reim, gibt sich mit dürren Texten zu den Veranstaltungen zufrieden und verliert noch mehr Zeit im Internet.

Wer das bemängelt, muss wissen, dass Kilian Engels weniger Budget und weniger Zeit für die Vorbereitung hatte als seine Vorgänger:innen. Zudem erschwerte die pandemische Lage seine Planung. Es ist also eine Festivalausgabe unter besonderen Bedingungen. Fakt ist: Sie beschert den Wies­ba­de­ne­r:in­nen Produktionen, für die sie sonst mindestens nach Frankfurt fahren müssten. Ausverkauft sind die meisten Vorstellungen aber beileibe nicht. Das Publikum scheint zu fremdeln. Ob das jetzt der coronaübliche Schwund ist oder Ausdruck einer anders gearteten Reserviertheit oder ein Desinteresse den Themen gegenüber, bleibt schwer abzuschätzen, wahrscheinlich eine Mischung aus allem. Der Festivalstart in den Sommerferien erleichtert die Sache nicht.

„White­washing“ von Rebecca ChaillonWiesbaden Foto: Constanza Meléndez/Biennale

Schöne Momente ergeben sich wie bei allen Biennalen nach den Aufführungen, diesmal vor allem im großspurig Festival-Garten genannten Bereich hinter dem Theater. Dort gibt es einen Stand mit äthiopischem Essen, etwas unpraktisch nur Tellergerichte, dazu diverse Getränke, Stehtische, Bierbänke, das Übliche halt. Zwischen Schillerdenkmal und im verdorrten Park grasenden Nilgänsen entstehen temporär neue Gemeinschaften. Nachtschwärmer kommen vorbei und sorgen für kleine Performances des Alltags.

Manches wirkt leiser bei dieser Biennale, kein großes Getöse wie beim letzten Mal mit Wirbel um die goldene Erdoğan-Statue. Das ist kein Makel, und wahrscheinlich unserer Zeit geschuldet. Das Große Haus, Spielstätte einiger Gastspiele, mit seinen 1.000 Plätzen zu füllen, ist schwer. Umso schöner, wenn die wenigen, die da sind, für die vielen, die zu Hause bleiben, mitklatschen, manche stehende Ovationen spenden.

Etwa Jeremy Nedd und seiner Truppe Impilo Mapantsula. Ihre Arbeit „How a Falling Star Lit up the Purple Sky“ ist eine betörende Auseinandersetzung mit dem Western als Hochburg weißer Dominanz. Schwindlig machend nähern sich die Tän­ze­r:in­nen den Klischees des Genres und konfrontieren sie mit der eigenen südafrikanischen Geschichte. Ein Abend, der auch ins Programm der Wiesbadener Maifestspiele gepasst hätte, als deren freche kleine Schwester die Biennale sich gern gebärdet.

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