Intendant über Baden-Württemberg: „Wahlkampf ist eher Prosa als Drama“
Der Intendant der Staatsoper Stuttgart, Jossi Wieler, liebt die Schwaben für ihre berechnende Leidenschaft – und warnt vor Extremisten im Landtag.
Wir haben noch eine gute Woche bis zur Landtagswahl. Die einen stellen den Ministerpräsidenten, zum ersten Mal in der Geschichte Baden-Württembergs, die anderen wollen zurück an die Macht. Wäre das ein Opernstoff?
Jossi Wieler: Gute Frage. Die habe ich mir so noch nicht gestellt. Sie meinen jetzt wirklich auf der Bühne?
Was wäre es denn für ein Stück? Ein Tragödie oder eine Komödie?
Ich sehe es nicht unbedingt als Drama. Eher als Prosa.
Eine Lesung über die letzten Tages des Wahlkampfs?
Mit verteilten Rollen. Man muss zeigen, was in Baden-Württemberg gewachsen ist. Vielleicht würden Politiker ein Drama sehen. Aber wenn ich aus der Perspektive einer Kulturinstitution spreche, dann möchte ich das weit über die Parteigrenzen hinaus gefestigte Fundament beschreiben, auf dem die Künste sich offen und frei entfalten können.
Dann gibt es am Ende eines abermals historischen Wahlkampfs gar keine dramatische Situation im eigentlichen Sinn?
Es könnte eine werden. Es wäre ein Drama für dieses Land, wenn Freiheiten beschnitten würden, wenn Extremisten und ideologische Dogmatiker ins Parlament einzögen.
Geboren 1951 in der Schweiz, gehört Jossi Wieler zu den stillen Stars des deutschen Regietheaters. Er studierte in Tel Aviv Regie und begann seine Karriere am Theater Heidelberg. Wieler inszenierte in den letzten Jahren an den großen Häusern in Deutschland und der Schweiz ausschließlich Opern. Seit 2011 ist er Opernintendant in Stuttgart. 2018 wird er seinen Vertrag auf eigenen Wunsch auslaufen lassen.
Kulisse für die Proteste von Gegnern gleichgeschlechtlicher Ehe war Ihr Haus ja schon.
Das Opernhaus wurde – ohne unser Wissen – Kulisse für eine sogenannte „Demo für alle“, was geradezu zynisch ist, weil es sich eben nicht um eine Demonstration für alle handelt. Da wollten wir im wahrsten Sinne des Wortes Farbe bekennen. 1.350 Mitarbeiter aus über 50 Nationen arbeiten in all ihrer individuellen Vielfalt an den Staatstheatern Stuttgart. Wenn unser Opernhaus als Kulisse für solche Demonstrationen benutzt wird, dann entsteht in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck, wir teilten deren Forderungen. Deswegen haben wir das letzte Mal mit einem künstlerischen Happening reagiert, mit dem „Vielfalt“-Banner. Und vergangene Woche haben wir die Option, dass der Demonstrationszug vor das Theater zieht, gar nicht erst aufkommen lassen, sondern auf dem Opernvorplatz ein Fest der Künste veranstaltet: „Shakespeare in love“, mit vielen befreundeten Kunst-Institutionen in dieser Stadt, als klares Zeichen nach außen und identitätsstiftend nach innen. Dieses Land hat eine liberale Tradition, für die wir uns immer wieder engagieren müssen.
Sie sprechen mit Hinwendung über Baden-Württemberg. Wie war das, als Sie in Ihrer Jugend von Kreuzlingen am Schweizer Bodenseeufer aus hinübergeschaut haben?
Der Bodensee, Südbaden – da habe ich heimatliche Gefühle. Natürlich hat sich die Gesellschaft verändert seit damals, aber nicht nur hier.
Was ist Ihnen Baden-Württemberg?
Das Staatstheater Stuttgart gehört seit Jahrzehnten zu den bedeutenden Häusern in Deutschland. Schauspiel, Oper und Ballett des größten Dreispartenhauses Europas sind mit berühten Namen und einflussreichen Inszenierungen verbunden. Zuletzt wurde das Ballett 2011 als Kompagnie des Jahres ausgezeichnet. Theater-Website
Von diesem Land sind immer sehr innovative Impulse ausgegangen, nicht nur aus der Wirtschaft. Es ist aber andererseits immer sehr traditionsbewahrend gewesen. Aus diesen Kräften schöpft das Land bis heute seine Dynamik.
Womöglich seit und weil es von Grün-Rot regiert wird?
Ich gehe da noch weiter zurück. Schon in den 80er und 90er Jahren wurde im kulturellen Bereich viel Visionäres initiiert. Das ZKM in Karlsruhe war neu, die Akademie Schloss Solitude, die Pop-Akademie in Mannheim, in Ludwigsburg die Filmakademie. Da wurde viel Innovatives geleistet und zu Zeiten von CDU-Ministerpräsident Lothar Späth auch viel Geld investiert. Davon profitiert das Land heute noch. Die Frage ist vielleicht, warum es im Moment vergleichsweise weniger neue Visionen gibt. Liegt das an der Zeit oder ist da eine Sättigung erreicht oder hat sich der Fokus verschoben?
Haben Sie eine Theorie, warum die innovativen Potenziale gerade eine Verschnaufpause eingelegt haben?
Das Geld ist weniger geworden. Das ist aber keine Theorie, das ist einfach ein Fakt.
Baden-Württemberg wählt am 13. März. Es ist ein Votum auch über den Kurs der Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage und möglicherweise das endgültige Aus der einstigen CDU-Dominanz im Land. Die Grünen könnten laut Umfragen stärkste Kraft werden. Die Wochenzeitung kontext aus Stuttgart und die taz.am Wochenende berichten in der Ausgabe vom 5./6. März auf neun Seiten gemeinsam vom Spätzle-Spektakel im Südwesten. Das Online-Magazin kontext feiert im April seinen fünften Geburtstag und liegt seit Gründung auch gedruckt der taz.am Wochenende bei.
Um der Wahrheit Genüge zu tun, muss man aber auch sagen, dass gerade Späth 1991 hohe Schulden hinterlassen hat.
Das stimmt. Ich zolle daher den Verantwortlichen von heute großen Respekt für ihre Entscheidung, dieses Opernhaus, den Littmann-Bau, der über hundert Jahre alt ist, grundlegend zu sanieren. Für mehrere hundert Millionen Euro. Da gibt es einen breiten Konsens. Und ich fand das beachtlich, kostbar geradezu, dass sie sich zur Vorbereitung dieser Entscheidung auf eine Informationsreise zu den Opernhäusern in Kopenhagen und London begeben haben. Mich als Schweizer hat das an die Art und Weise erinnert, wie bei uns politische Fragestellungen im Vorfeld von Volksabstimmungen diskutiert werden. Dieser zutiefst demokratische Meinungsbildungsprozess, der parteiübergreifend war, hat mich beeindruckt.
Als Schweizer sind Sie ja ein Experte für die Politik des Gehörtwerdens. Das ist auch eine grün-rote Innovation, die obendrein vergleichsweise wenig kostet.
So unterschiedlich sind die Mentalitäten der Menschen nicht, die in der Schweiz und in Schwaben leben. Die Zwinglianer und die Pietisten sind in gewissem Sinn nicht unverwandt. Und das spürt man immer wieder. Man muss einen langen Atem haben, wenn man etwas erreichen möchte. Aber wenn die Argumente überzeugen, wächst auch die Begeisterung, so wie jetzt bei der Sanierung des Opernhauses.
Sie sagen immer, Sie wären als Intendant an kein anderes Opernhaus gegangen als Stuttgart.
Das hat damit zu tun, was in diesem Land und natürlich auch in diesem Haus gewachsen ist. Es gibt hier einen Geist von innen heraus, den es an vielen anderen Opernhäusern in Deutschland und in der Welt kaum noch gibt. Da ist auch ein Publikum, das sich mitnehmen lässt, das sich auseinandersetzen möchte mit schwierigen Stoffen, das nicht einfach nur zufrieden ist mit kulinarischem Theater. Das merkt man beispielsweise daran, wie begehrt die Programmhefte aus unserer Dramaturgie sind. Die Menschen hier wollen informiert sein. Und sie schauen und hören genau hin. Meine Gespräche mit Besuchern im Foyer sind nie oberflächlich. Da geht es immer um den Kern.
Aber provinziell, würden jetzt wohl manche Berliner sagen. Haben Sie das jemals so empfunden, dass Sie in der Provinz Kultur machen?
In den großen Städten wird oft etwas gehypt. Daumen hoch, Daumen runter, oder die Leute gehen türenschlagend aus einer Aufführung raus. Das ist in Stuttgart nicht der Fall. Unser Publikum schaut sich Inszenierungen zum Teil mehrfach an. Einzigartig ist die räumliche Dichte der kulturellen Einrichtungen in der Innenstadt, andererseits habe ich immer wieder das Gefühl, Stuttgart ist auch ein großes Dorf.
Dieses Dorf hat Sie 2011, auch direkt hier vor Ihrem Opernhaus, aber sehr großstädtisch empfangen mit dem Protest gegen Stuttgart 21.
Da sind wir wieder bei der Mentalität. Ich könnte mir diese Art von Protest, in der zeitlichen Länge und in der Bevölkerungsbreite, auch in der Intensität bis weit ins Bildungsbürgertum hinein anderswo so nicht vorstellen. Vor allem in dem Wunsch, sich etwas anzueignen. Dieser Wille, das Wissenwollen, die Vehemenz sind einzigartig.
Das hat jetzt aber doch mit Empörungsfähigkeit, mit Türenschlagen im übertragenen Sinn zu tun.
Wir haben bei den Gegnern von Stuttgart 21 gesehen, wie leidenschaftlich empört eine Gesellschaft oder ein Teil einer Gesellschaft sein kann. Und ich habe das mit Interesse beobachtet. Auch weil der Protest so standhaft war und zum Teil immer noch ist.
Vielleicht wäre das ein Opernstoff.
Eine Oper plant man sehr viele Jahre im Voraus. Als wir „Salome“ ins Programm genommen und dann dem russischen Regisseur Kirill Serebrennikov angeboten hatten, da wussten wir nicht, dass es acht Tage vor der Premiere im November 2015 diese Anschläge in Paris geben würde, die der Inszenierung eine besondere Relevanz verliehen haben. Eine „Salome“, in der der Eiferer Jochanaan als muslimischer Prophet gezeigt wird, das hat einen neuen Blick eröffnet. Sogar bei Menschen, die eher das Kulinarische lieben. So zeigt sich, wie Künstler mit einem Stoff weit im Vorhinein in das gesellschaftspolitische Bewusstsein hineinlauschen sollten. Und genau das soll im Theater passieren. Dann wird Theater relevant und erfüllt ein großes Bedürfnis in der Bevölkerung.
Gut für die Kunst, dass es einen Ministerpräsidenten gibt, der das als großer Opernkenner verinnerlicht hat.
Das ist wahr. Er kommt tatsächlich oft in die Oper. Wir hatten vor drei Spielzeiten „Iphigenie in Aulis“ von Gluck im Programm. Das ist ein nicht so gängiger Titel im Opernrepertoire Aber der Ministerpräsident kam. Ich habe ihn in der Pause begrüßt und gefragt, was ihn bewogen habe, diese Vorstellung zu besuchen. Er antwortete, dass er Glucks Oper zwar nicht kenne, wohl aber den antiken Atriden-Mythos um Familie und Macht, der ihn besonders interessiere. Was will man als Kulturschaffender von einem Landesvater mehr als so eine Aussage?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands