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Integration ist kein Patentrezept

Große Klassen, wenig Lehrer, schlechte Lehrmittel – die Situation an den Sonderschulen müsste dringend diskutiert werden. Ihre Abschaffung jedoch ist sicher keine Lösung

Sonderschulen können eher auf die Bedürfnisse solcher Kinder eingehen,als Regelschulen

Gegenwärtig wird viel darüber diskutiert, wie sich die Qualität unserer Schulen steigern ließe. Im Mittelpunkt steht dabei die Förderung von „besonders Begabten“. Wenig Interesse findet dagegen die Frage, wie die Ausbildung von lernbehinderten und erziehungsschwierigen Schülern verbessert werden könnte. Selbst die Bündnisgrünen unterstützen bisher meist nur jene „behinderten“ Kinder, die in einer Regelschule integrativ beschult werden – im so genannten gemeinsamen Unterricht. Das sind aber bundesweit nur fünf Prozent der Lernbehinderten und Erziehungsschwierigen. Damit werden aber jene 95 Prozent von ihnen ausgegrenzt, die in Sonderschulen gefördert werden. Das sind immerhin 280.000 Kinder in Deutschland.

Das grüne Desinteresse hat auch damit zu tun, dass viele Grünen die Sonderschulen für überholt halten. Manche möchten sie sogar vollständig auflösen. Der „integrative Unterricht“ gilt als das Zukunftsmodell. Doch dies würde den Förderbedürfnissen der meisten Kinder nicht gerecht. Um diese Kinder kurz zu schildern: Einige Kinder fallen durch Wahrnehmungs- und Bewegungsdefizite auf. Sie können sich nicht konzentrieren, sind immer in Bewegung.

Lernbehinderte können den Lautklang der Buchstaben nicht differenziert hören und merken sich Wörter und Zahlen nur langsam. Beim Falten und Schneiden sind sie ungeschickt, oder sie haben Mühe, sich Zahlenmengen vorzustellen. Oftmals kommen solche Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen. Ihre Schulmaterialien sind unordentlich oder gar nicht vorhanden. Zum Unterricht erscheinen lernbehinderte Kinder häufig zu spät, oder sie schwänzen die Schule. Manche haben morgens nicht gefrühstückt und kein Pausenbrot mit. Sie haben regelmäßig Streit mit anderen und halten Regeln kaum ein. Hausaufgaben werden selten gemacht.

Dreißig Prozent der Sonderschüler kommen aus Migrantenfamilien. Sie sind an den Sonderschulen überrepräsentiert, da ihre Eltern überwiegend eine geringe Bildung haben. Ein weiteres Drittel der lernbehinderten Kinder ist arm. Dies verdeutlicht, dass sich Armut ungünstig auf das Sozial- und Lernverhalten von Kindern auswirkt und zu schwerwiegenden Lern- und Entwicklungsstörungen führen kann. Dass umgekehrt jedoch „nur“ etwa 10 Prozent der armen Kinder lernbehindert und erziehungshilfebedürftig sind und dass gleichzeitig immer mehr Sonderschüler auch aus Mittelschichtfamilien kommen, zeigt, dass die Ursachen für Lernbehinderungen und Verhaltensauffälligkeiten vielfältig sind. So können Lern- und Entwicklungsstörungen auch durch Probleme während der Schwangerschaft und der Geburt oder durch bewegungs- und wahrnehmungsarme Freizeitgewohnheiten entstehen. Auch fehlende Erziehungs- und Beziehungskompetenzen, eine vererbte geringere Intelligenz oder etwa eine Reizfilterschwäche zählen dazu.

Diese Kinder müssten individuell gefördert werden – doch meist geschieht zunächst das Gegenteil. Viele von ihnen haben auf der Grundschule schon jahrelange Misserfolge hinter sich, sind in der Klasse isoliert und gehen ungern zur Schule, bevor endlich ein „Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs“ eingeleitet wird. Theoretisch haben die Schüler dann Anspruch auf eine besondere Förderung. Doch faktisch ist sie unzureichend; es fehlt an Personal und an Ausstattung. Das gilt sowohl für den „gemeinsamen Unterricht“ wie auch für die Sonderschule.

Doch dort sind die Klassen zu groß – bei den Lernbehinderten sind es bis zu 18 Schüler, bei den Erziehungsschwierigen bis zu 12. Folglich fallen oft Stunden aus, weil Klassen geteilt werden müssen, um einen angemessenen Unterricht durchzuführen. Dadurch erhalten ausgerechnet die Schüler, die mehr individuelle sonderpädagogische Förderung brauchten, weniger Unterricht als „normale“ Schüler. Sonderschulen sind zudem meist in ausrangierten Gebäuden untergebracht. Ihre Ausstattung, von den Möbeln bis zu den Medien, ist äußerst dürftig.

Die Situation an den Sonderschulen muss also dringend öffentlich diskutiert werden – aber nicht mit dem Ziel, sie aufzulösen. Denn dies würde die lern- und erziehungshilfebedürftigen Kinder nur weiter benachteiligen. Dass heute in der Bundesrepublik nur etwa fünf Prozent der Sonderschüler im Grundschulalter integrativ gefördert werden, liegt nicht nur an reformunfähigen Schulbehörden oder „egoistischen“ Lehrern an Regelschulen. Es gibt auch fachliche Gründe, die gegen einen „gemeinsamen Unterricht“ sprechen.

Diese werden besonders ab der fünften Klasse deutlich. Deshalb werden nur noch ein Zehntel der vorher integrativ beschulten behinderten Kinder weiter im „gemeinsamen Unterricht“ gefördert. Denn kaum eine Lehrkraft kann aufgrund ihrer Ausbildung all die Anforderungen abdecken, die benötigt werden, um geistig und Lernbehinderte, Erziehungsschwierige, Körperbehinderte, Gehörlose und Blinde mit weiteren 15 bis 20 nichtbehinderten Kindern angemessen zu unterrichten. Daher liegt dieser „gemeinsame Unterricht“ oft fachlich gesehen weit hinter dem zurück, was für die behinderten Kinder notwendig und in einer Spezialschule möglich ist. Sonderpädagogische Förderung ist sehr vielfältig und umfangreich. Sie verlangt sogar Spezialisierungen in den einzelnen Behindertenfachrichtungen und Spezialkenntnisse etwa von Ergotherapeuten und Logopäden. Zudem gibt es Schüler, die gar nicht mit mehr als sechs Schülern unterrichtet werden können – zum Beispiel aufgrund ihrer psychischen Störungen.

Lernbehinderte können Buchstabennicht differenziert hören und merken sich Wörter nur langsam

Keine Frage: Der „gemeinsame Unterricht“ von behinderten und nichtbehinderten Kindern in einer Regelschule ist in vielen Fällen sinnvoll. Trotzdem wird die Mehrheit der behinderten Kinder besser in einer Sonderschule gefördert, wo auf ihre Bedürfnisse stärker eingegangen werden kann. Dabei sollte selbstverständlich gelten, dass die Kinder wieder in eine Regelschule wechseln können, sobald sie sich stabilisiert haben.

Die Verbesserung der sonderpädagogischen Förderung wird Geld kosten. Nötig sind mehr Ganztagsbetreuungsangebote, mehr Lehrerstunden pro Schüler, aber auch mehr Schulsozialarbeiter und etwa Motopäden. Ein ungelöstes Problem für Sonderschüler ist der Übergang in das Arbeitsleben. Momentan finden viele keine reguläre Lehrstelle. Um ihre Chancen zu erhöhen, müsste schon in der Schulzeit verstärkt mehr praktische Berufsvorbereitung stattfinden, etwa durch Handwerker, und mehr Betriebspraktika.

Doch momentan ist leider nicht wirklich zu erkennen, dass unsere Gesellschaft bereit wäre, für die behinderten Schüler mehr Geld aufzuwenden. Somit wird in Kauf genommen, dass ihre spätere berufliche Existenzsicherung, ihre gesellschaftliche Integration und ihre demokratische und kulturelle Teilhabe in unserer Wissensgesellschaft gefährdet wird. Dabei haben nicht nur die „besonders Begabten“, sondern auch Sonderschüler ein Recht darauf, so viel zu wissen und zu können, wie ihnen möglich ist. GÜNTHER RÖPERT

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