Instrumentalisierung von Todesfällen: Rechter Haken ohne Sturm
Vor einem Jahr starb in Wittenberg ein Deutscher bei einem Streit mit einem Syrer. Bundesweite Aufmerksamkeit fehlte – wieso?
Um 14.54 Uhr läuft Marcus Hempel mit einer Freundin ins Bild der Überwachungskamera. Sie wollen sich im Einkaufszentrum das Videospiel „Fifa 18“ kaufen. Die beiden schieben ihre Fahrräder auf den gepflasterten Vorplatz und schließen ab. Am Eingang treffen sie auf eine Gruppe von vier jungen Männern.
Es ist ein Video, das einen nicht mehr loslässt. Das zeigt, wie schnell es vorbei sein kann. Drei Schläge, ein Sturz. Der Kopf von Marcus Hempel schlägt auf dem Boden auf, die Glasflasche in seiner Hand zerbricht. Mit dem Rettungswagen wird er ins Paul-Gerhardt-Stift gebracht, dann mit dem Hubschrauber ins Klinikum Dessau. Um 23.40 Uhr ist er tot, gestorben an den Blutungen in seinem Gehirn.
Immer, wenn in den vergangenen Monaten Flüchtlinge am Tod von Deutschen direkt oder indirekt beteiligt waren, gab es einen bundesweiten Aufschrei: Die Todesfälle in Kandel, Freiburg und zuletzt in Chemnitz und Köthen wurden über Nacht zu medialen Großereignissen. Der Tod von Marcus Hempel in Wittenberg nicht.
Die Umstände für einen Aufschrei sind gegeben
Dabei sind die Umstände dafür gegeben: Das Opfer ein Deutscher, und Sabri H., der zugeschlagen hat, ein Syrer, der 2015 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen war. Zudem war Sabri H. schon mal durch eine Schlägerei aufgefallen. Trotzdem berichten fast ausschließlich lokale Medien über den Fall.
Drei Tage nach der Tat, am Montag, den 2. Oktober, verschickt die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau eine Pressemitteilung. Es ist ein Brückentag, deswegen ist nur eine Staatsanwältin im Dienst. Die Pressemitteilung schließt mit einem nüchternen Satz: „Aufgrund der bisherigen Ermittlungen dürfte derzeit von einer Notwehrhandlung (mit tragischen Folgen) auszugehen sein.“
Die taz hat die Ermittlungsakte und das Überwachungsvideo einsehen können, das die Tat zeigt. Die Recherche weckt Zweifel an der Darstellung der Staatsanwaltschaft.
Karsten Hempel, Vater des Getöteten
Im Frühjahr 2018, sieben Monate nach der Tat, sitzt Karsten Hempel in seiner Tiefbaufirma in einem grauen Gewerbegebiet außerhalb Wittenbergs. Draußen stehen die Bagger und Radlader, drinnen ist Hempel allein am großen Konferenztisch, er setzt sich eine Lesebrille auf und hebt den Kopf. „Ich habe immer an den Rechtsstaat geglaubt“, sagt er. Jetzt hat er den Glauben verloren.
Ein Kampf für eine Anklage
Der Rucksack, mit dem Hempel seit Monaten schon herumläuft, ist so voll, dass sich der Reißverschluss nicht mehr schließen lässt. Darin Aktenordner mit der Ermittlungsakte und seine eigenen Aufzeichnungen, akribisch abgeheftet. Er hat bunte Post-its zwischen die Seiten geklebt.
Hempel kämpft dafür, dass gegen Sabri H. Anklage erhoben wird. Nach dem Tod von Marcus Hempel wird Sabri H. vernommen, aber keine Untersuchungshaft beantragt. Die erste Einschätzung der Staatsanwaltschaft ist, dass Sabri H. in Notwehr handelte. In diesem Fall muss sie keine Anklage erheben.
Hempel hat sich das Video, in dem sein Sohn tödlich verletzt wird, über hundert Mal angeschaut. Er hat eine Mission. Das hilft ihm, das Unfassbare zu bearbeiten.
Der Zeitstempel des Videos zeigt 14.54 Uhr. Sabri H. steht mit drei Freunden vor dem Eingang des Einkaufszentrums und wartet. Marcus Hempel läuft mit einer Freundin ins Bild. Sabri H. geht an den beiden vorbei und zeigt ihnen den Mittelfinger. Das Video hat keinen Ton, aber zu diesem Zeitpunkt reagieren weder Hempel noch seine Freundin auf ihn. Sabri H. dreht wieder um und wartet in einigen Metern Entfernung.
Drei Schläge, dann hält er inne
Nachdem sie ihre Fahrräder angeschlossen haben, gehen Hempel und seine Freundin zum Eingang des Einkaufszentrums. Plötzlich drehen sie um und gehen zur Gruppe der Syrer. Sie streiten, Hempels Freundin steht zwischen den Männern und gestikuliert. Sabri H. schubst, Hempel schubst zurück. Wieder stellt sich Hempels Freundin dazwischen. Dann schlägt Hempel als Erster zu, über die Schulter seiner Begleiterin, und trifft Sabri H. im Gesicht. Es sieht nicht nach einem platzierten Schlag aus.
Sabri H. reagiert schnell. Er schlägt zurück, Hempel taumelt nach hinten. Sabri H. schlägt noch mal zu, Hempel wehrt sich nicht, er taumelt weiter, etwa drei Meter über den Vorplatz. Dann schlägt Sabri H. ein drittes Mal zu. Hempel schlägt mit dem Kopf auf und bleibt liegen. Sabri H. geht auf den am Boden Liegenden zu, setzt zu einem weiteren Schlag an, hält dann aber inne. Er lässt von ihm ab, hebt seine Kappe auf, die auf den Boden gefallen ist, und verlässt den Tatort.
In der Pressemitteilung schildert die Staatsanwältin den Vorgang anders. Demnach sei die Aggression von Marcus Hempel ausgegangen: „Im weiteren Verlauf versetzte der 30-Jährige dem Syrer erneut einen Faustschlag, woraufhin Letzterer unmittelbar reagierte und den 30-Jährigen seinerseits mit einem Faustschlag am Kopf traf.“
Laut Staatsanwaltschaft soll Hempel zweimal zugeschlagen haben, Sabri H. einmal. Im Video sieht man aber nur einen Schlag von Hempel und drei Schläge von Sabri H. Dass dieser als Erster schubst, erwähnt die Staatsanwaltschaft nicht, genauso wenig, dass Sabri H. Hempel vorher möglicherweise erkennt und den Mittelfinger zeigt.
Polizist schrieb richtigen Bericht
Schon am Samstag, einen Tag nach der Tat und zwei Tage vor der Pressemitteilung, wertet ein Polizist das Überwachungsvideo aus. Das geht aus der Ermittlungsakte hervor. Der Polizist schreibt einen Bericht, er zählt die Schläge richtig, er schreibt auch, dass zuerst Sabri H. schubste, dass Hempel nur einmal zuschlug und Sabri H. dreimal. Warum die Staatsanwältin die Tat nach dem Polizeibericht anders darstellt, ist unklar.
In der Wittenberger Polizei wundert man sich über das Verhalten der Staatsanwaltschaft. „Skurril“ sei die Pressemitteilung gewesen. Öffentlich sprechen will aber niemand. Aus Kreisen der Polizei heißt es, man sei „sehr sauer“. Immer wieder würden Bürger die Beamten auf den Todesfall ansprechen.
Zudem sei es seit Jahren üblich, dass Polizei und Staatsanwaltschaft eine gemeinsame Pressemitteilung veröffentlichen. Die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau bestätigt dies auf Anfrage der taz. Warum es in diesem Fall anders gehandhabt wurde, wollte die Staatsanwaltschaft nicht herausfinden. Das sei „zu zeitaufwendig“. Dass der Tatverlauf anders als im Video dargestellt wird, begründet die Staatsanwaltschaft damit, dass eine Pressemitteilung nur Wesentliches mitteile.
Was ist Notwehr? Das ist juristisch nicht eindeutig. Dass Sabri H. häufiger und heftiger zuschlug als Marcus Hempel, beweist nicht, dass er nicht aus Notwehr handelte. Auch ein Gegenangriff kann juristisch unter Notwehr fallen. Aber Sabri H. wurde von mehreren Freunden begleitet, deshalb ist zweifelhaft, ob er sich so heftig wehren musste. Zudem könnte sein Motiv eine Rolle spielen: Wenn Sabri H. aus Hass oder Rachsucht gehandelt haben sollte, wäre Notwehr unwahrscheinlich. Klären kann das nur ein Gericht. Aber dafür bräuchte es eine Anklage.
Streit wegen eines Hundes
Später agiert die Staatsanwaltschaft defensiver. Die Ermittlungen seien nicht abgeschlossen, man ermittle wegen des Verdachts auf Körperverletzung mit Todesfolge. Dabei wurde nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit die Notwehrthese vertreten, sondern auch in der Ermittlungsakte. Dort heißt es unter anderem, eine Altersfeststellung bei Sabri H. sei nicht nötig, da von Notwehr ausgegangen werde.
Karsten Hempel weist die Staatsanwaltschaft immer wieder darauf hin, dass sich sein Sohn und Sabri H. gekannt hätten. In Pratau am Rande Wittenbergs wohnten beide nur wenige Häuser voneinander entfernt. Die Freundin von Marcus Hempel sagte der Polizei, dass Marcus auf einem Spielplatz in der Nähe der Häuser Streit mit einem Syrer gehabt hätte, wegen eines Hundes. Falls es sich bei dem Syrer um Sabri H. gehandelt hat, könnte das erklären, warum er vor dem Einkaufszentrum Marcus Hempel den Mittelfinger zeigt. Dann hätte Sabri H. ein Motiv.
Im Februar bekommt Karsten Hempel einen Termin beim Wittenberger Oberbürgermeister, dem parteilosen Torsten Zugehör. Er bittet darum, an dem Ort, an dem sein Sohn starb, eine Plakette anbringen zu dürfen, nichts Großes, zehn mal zehn Zentimeter. Zugehör habe ihm versprochen, dass sich der Ältestenrat kümmern werde, sagt Hempel, im März oder April gebe es eine Entscheidung. Hempel wartet bis heute.
Der Pressesprecher des Bürgermeisters sagt dazu auf Nachfrage der taz, dass der Eigentümer einem Gedenkstein zustimmen müsse. Die Managerin des Einkaufszentrums dagegen sagt, dass der Tatort städtisches Gebiet sei.
Neonazis werden aufmerksam
Karsten Hempel fühlt sich allein gelassen, von der Justiz und der Wittenberger Politik. Dafür werden in Wittenberg lokale Neonazis auf den Tod seines Sohns aufmerksam. Ein Bericht des MDR zeigt, wie drei Wochen nach der Tat einige Dutzend Rechte durch die Innenstadt ziehen, am Einkaufszentrum vorbei, vor dem Marcus Hempel starb. „Gerechtigkeit“ fordern sie und rufen: „Überfremdung stoppen!“
Die lokale Mitteldeutsche Zeitung wird mit Nachrichten überschüttet, warum sie die Tat verschweigen würde. Als die Zeitung doch berichtet, muss der Online-Kommentarbereich unter dem Text zwischenzeitlich abgeschaltet werden.
Nach der ersten Aufregung aber wird es in Wittenberg wieder ruhig, der Fall bekommt überregional keine Aufmerksamkeit. Wittenberg wird kein Hashtag. Warum?
Wittenberg, das ist so etwas wie das Potsdam von Sachsen-Anhalt. Hier arbeitet ein liberales und privilegiertes Bürgertum, rund um die evangelische Akademie gibt es zahlreiche christliche Einrichtungen. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft, Zehntausende amerikanische Touristen kommen im Jahr, das prägt das Klima der Stadt.
Fälle werden instrumentalisiert
Ein Anruf bei David Begrich, Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Verein Miteinander e.V. Sucht man nach einem Experten für Neonazis in Sachsen-Anhalt, dann sagen alle: Frag Begrich.
Begrich hat mit seinen Kollegen analysiert, wann aus einem Einzelfall ein Erfolg der rechten Szene wird, „Mobilizing Resources“ nennt er das. Begrich ist überzeugt, dass die AfD und die außerparlamentarische Rechte gezielt nach Fällen wie in Chemnitz und in Wittenberg suchen, um diese zu instrumentalisieren, spricht von „Eventscouts“ und sagt: „Die Rechte ist gerade in einem Rauschzustand.“
David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Verein Miteinander e.V.
Nötig seien drei Bedingungen: Erstens brauche es einen Anlass, der skandalisiert werden könne. Zweitens eine handlungsfähige rechte Struktur. In Chemnitz waren das die organisierten Hooligans des Chemnitzer FC, die am ersten Tag den Mob anführten. „Es reicht aber nicht, die eigene Crowd auf die Straße zu bringen“, sagt Begrich. Deshalb brauche es drittens Personen, die ein bürgerliches Publikum ansprechen. Das rechte Bürgerbündnis Pro Chemnitz legitimierte die Demonstration für Chemnitzer, die sich selbst nicht als politisch rechts verstehen.
Zweitens und drittens fehlten in Wittenberg. 86 Teilnehmer zählten Beobachter bei der rechten Demonstration nach dem Tod von Marcus Hempel, sie erkannten Neonazikader von der NPD und Thügida auf der Straße, von der Volksbewegung Sachsen-Anhalt und der sogenannten GHC Crew. Es sind die gleichen Gruppen, die ein knappes Jahr später erfolgreich nach Köthen mobilisieren sollten. In Wittenberg blieben sie unter sich.
Einst eine Hochburg
Seit den neunziger Jahren beobachtet Begrich die Neonazi-Szene in Ostdeutschland. Damals war Wittenberg eine Hochburg, die Kameradschaft Elbe-Ost hatte das Sagen. Seitdem sei die Szene kleiner geworden. Für viele organisierte Neonazis in Sachsen-Anhalt, etwa in Magdeburg, ist Wittenberg weit weg, fast in Brandenburg. Nur selten beteiligen sie sich an Kundgebungen. Bei Köthen war das anders: Die Stadt liegt in der Nähe von Magdeburg, an der Grenze zu Sachsen und Thüringen. Auch die AfD ist hier aktiver als in Wittenberg.
Begrich sieht noch einen Unterschied, es ist ein Unterschied in der politischen Kultur: In Sachsen-Anhalt sei die AfD zwar mit fast 25 Prozent sehr stark im Parlament, aber schwach auf der Straße. In Sachsen dagegen sei die Rechte auf der Straße erfolgreich und habe sogar einige Unterstützer in der Polizei und anderen Staatsorganen. Das könnte erklären, warum sich die Polizei in Chemnitz lange zurückhielt und die Proteste größer wurden. In Köthen dagegen war die Polizei präsent und dämmte die Proteste ein.
In Wittenberg bleibt es aber auch deshalb ruhig, weil früh der Verdacht im Raum steht, dass der Getötete Neonazi gewesen sei. Dazu passt, dass die Begleiter von Sabri H. bei der Polizei angaben, Marcus Hempel habe sie rassistisch beleidigt. Dann wird die Facebookseite von Hempel öffentlich, sie existiert nach seinem Tod weiter. Ihm gefallen die rechtsextremen Bands Landser und Nordfront, außerdem die Seite „Jugend wählt NPD“. Polizeilich ist er nicht als rechtsextrem bekannt. Auch antifaschistischen Beobachtern der Szene ist er kein Begriff.
Dass sein Sohn Neonazi war, streitet Karsten Hempel ab. Hempels Freundin, die bei der Tat dabei war, eine Deutsch-Griechin, beschimpfte die Teilnehmer bei der Nazidemo in Wittenberg. Eine Kamera des MDR hält fest, wie sie auf einen Mann einredet: „Das ist doch der letzte Scheiß, den ihr hier macht. Kannte einer von euch den?“
Altparteien spielen mit ihren Handys
Während die demokratische Öffentlichkeit sich mit dem Schicksal von Hempel und seiner Familie schwertut, versucht die AfD, den Fall für ihre Zwecke zu nutzen. Sie beantragt im Mai eine Aussprache im Magdeburger Landtag, der Titel: „Gerechtigkeit für Marcus H.“ Der Abgeordnete Mario Lehmann behauptet dort, der Tod sei „gedeckelt“ worden. Die Tat störe die „Zuwanderungslobby“ beim „Geldverdienen“. Der Tod von Marcus Hempel zeige, dass die Bundesrepublik „ideologisch verseucht“ sei.
Karsten Hempel sitzt auf der Tribüne und hört zu. Eingeladen wurde er von der AfD-Fraktion. „Das war die größte Demütigung in meinem Leben“, sagt er danach. Die Abgeordneten der „Altparteien“ hätten geflachst und mit ihren Handys gespielt, der Staatssekretär habe in seinem Stuhl gehangen, als er die Fragen beantwortete. Im Protokoll der Sitzung liest sich das so: „Heiterkeit bei der Linken“ – „Lachen bei der SPD und bei den Grünen“.
Über die Ausfälle der AfD spricht Karsten Hempel nicht. Er sagt, er stehe keiner Partei nahe. Aber er gibt dem rechten Netzwerk Politically Incorrect ein Interview, in dem er sagt, dass er bei einer Demonstration der rechten Bewegung „Kandel ist überall“ über den Tod seines Sohnes gesprochen habe.
Erst vor Kurzem veröffentlicht das rechte Netzwerk einprozent.de ein Video mit der Botschaft „Chemnitz war kein Einzelfall“ über den Tod von Marcus Hempel, es wird hundertfach in sozialen Netzwerken geteilt. Auch Hempels Vater kommt zu Wort, im Video sagt er: „Es geht einfach um die Art und Weise, wie dieser Staat damit umgegangen ist, nicht dass es ein Asylsuchender war.“
Der Fall wird der Staatsanwaltschaft entzogen
Karsten Hempel bestreitet, dass er politisch rechts steht. Vielleicht hätte er sich nicht die falschen Unterstützer gesucht, hätte er sich nicht alleingelassen gefühlt. Aber spielt das überhaupt eine Rolle für die Fehler der Staatsanwaltschaft und das Desinteresse der Öffentlichkeit?
Im April passiert etwas Ungewöhnliches. Der Fall wird der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau entzogen und von der Staatsanwaltschaft Magdeburg übernommen. Offiziell wird das mit dem Umzug des Tatverdächtigen begründet. Dabei gilt in Deutschland eigentlich das Tatortprinzip. Doch weil Sabri H. bei der Tat noch minderjährig war, kann die zuständige Staatsanwaltschaft wechseln – zwingend notwendig ist das nicht.
Wurde der Fall entzogen, weil die Pressemitteilung fehlerhaft war? Die Staatsanwaltschaft Magdeburg bestreitet das. Unbestritten ist aber, dass der Fall für die Justizministerin Anne-Marie Keding von der CDU seit dem Auftritt vor dem Landtag eine politische Dimension hat.
Im September gibt die Staatsanwaltschaft Magdeburg an, dass weiterermittelt werde. Ob das Verfahren eingestellt oder Anklage erhoben werde, sei noch nicht entschieden. Dabei schrieb die Polizei schon im März in einem internen Vermerk, dass es keine weiteren Anhaltspunkte für Ermittlungen gebe.
An den Namen des Opfers erinnert er sich kaum
Es ist Mitte September, und Hempel ist gerade auf dem Weg zum Friedhof, als er ans Telefon geht. Ob es etwas Neues gebe? Hempel verneint. Dann erzählt er, dass sein Sohn heute 31 Jahre alt geworden wäre. Seine Stimme stockt, er fängt an zu weinen.
Sabri H. lebt heute in Magdeburg, mit seinen Eltern und Geschwistern, die er wenige Monate vor der Tat im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland holen durfte. Er macht eine Ausbildung zum Autolackierer und ist im Fußballverein.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Am Telefon bestreitet er, dass er Marcus Hempel vor der Tat gekannt habe. Und der „Stinkefinger“ hätte nicht Hempel, sondern seinen Freunden gegolten. Er sei nach dem Freitagsgebet zum Einkaufszentrum gekommen, um sich mit Freunden zu treffen. Es tue ihm leid, was passiert sei. „Aber wenn man geschlagen wird, muss man sich wehren.“ Besonders zu belasten scheint ihn die Tat nicht. „Das ist passiert, das ist das Leben.“ An den Namen des Opfers kann er sich nicht mehr genau erinnern.
Nach Deutschland gekommen war Sabri H. im Sommer 2015. Er lebte lange in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Pratau. Seine ehemaligen Betreuer erkannten keine Anzeichen für eine zunehmende Gewaltbereitschaft bei ihm. Ausreichend Plätze für psychologische Betreuung gebe es aber nicht.
Es fängt an zu brodeln
Die Bewohner von Pratau seien den Flüchtlingen oft feindlich begegnet, hätten immer wieder die Luft aus ihren Fahrrädern gelassen. Sabri H. erzählt von einem betrunkenen Nachbarn, der ihn geschlagen habe. Er habe sich gewehrt, deshalb die Anzeige wegen Körperverletzung.
Für den ersten Todestag an diesem Samstag hat die AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt zu einer Kundgebung aufgerufen, zu der mehrere Abgeordnete und auch der Fraktionsvorsitzende aus Magdeburg anreisen. In der Geschäftsstelle der Partei in Wittenberg stapeln sich die Flyer. „Eiskalte Hinrichtung“ nennt die AfD die Tat und fordert die Justizministerin zum Rücktritt auf. Auf dem Flyer sieht man ein Foto, es zeigt eine Blutlache auf dem Boden. Es ist kein Foto vom Tatort, sondern willkürlich ausgewählt.
In der AfD ist man sicher: „Wäre dieser Fall heute passiert, gäbe es hier so etwas wie in Köthen.“
Schon Anfang September, eine Woche nach dem Mob in Chemnitz, waren 300 Demonstranten in Wittenberg auf der Straße. „Warum dauern die Ermittlungen so lange? Soll hier etwas unter den Teppich gekehrt werden?“, fragte ein AfD-Redner und sagte, dass überhaupt noch ermittelt werde, sei seiner Partei zu verdanken. In einer Nebenstraße protestierten 60 Menschen gegen die Kundgebung. Der Reporter der Lokalzeitung sagt dazu später: „Hier fängt es an zu brodeln.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“