Insekteninvasion in den USA: Sie wollen immer nur Sex
Viele Jahre verbringen sie unter der Erde, dann schlüpfen Milliarden Zikaden gleichzeitig und wollen sich schnellstens paaren. Aber die „Magicicadas“ können noch viel mehr.
WASHINGTON ap | Sie haben hervortretende rote Augen, jeden Tag kriechen Milliarden von ihnen aus der Erde, wo sie sich 17 Jahre lang verborgen hatten. Sie überschwemmen die Ostküste der USA von North Carolina bis Connecticut.
Die Zikaden kommen. Bald werden dort 600 von ihnen auf einen Menschen kommen – oder sogar noch mehr. Die Wissenschaftler der Invasion bereits einen Namen gegeben: „Die Brut II“, in Anlehnung an den gleichnamigen Horrorfilm. Aber die gut zwei Zentimeter langen Insekten sind harmlos, allenfalls ein paar Setzlinge oder junge Büsche werden ihnen zum Opfer fallen.
„Es ist nicht so, dass diese Horden von Zikaden Blut saugen oder Menschen in Zombies verwandeln“, beruhigt May Berenbaum, eine Insektenforscherin von der Universität Illinois. Eigentlich hätten die Tiere nur eines im Kopf: Sex. Schließlich haben sie auch lange genug darauf gewartet.
Seit 1996 lebten die Tiere, verpuppt und flügellos, etwa einen Meter unter der Erde, saugten an Baumwurzeln und warteten auf ihre Zeit. Die kommt, wenn die Bodentemperatur knapp 18 Grad erreicht. Nach ein paar Wochen in den Bäumen sterben sie. Ihr Nachwuchs geht dann wieder unter die Erde – und kommt nicht vor 2030 zurück ans Tageslicht. „Das ist einfach eine erstaunliche Leistung“, sagt Berenbaum. „Wie kann man da nicht beeindruckt sein?“
Lautstärke eines Rockkonzerts
Vor allem werden die Zikaden, die in ausgewachsenem Zustand etwa 25 Millimeter groß sind, einen Heidenlärm veranstalten. Die Geräusche, die männliche Tiere von sich geben, um Weibchen zum Liebesspiel zu locken, können durchaus die Lautstärke eines Rockkonzerts erreichen. Bis zu 94 Dezibel wurden dabei in früheren Jahren gemessen, das ist so laut, dass man nicht hört, wenn gleichzeitig ein Flugzeug über einen hinwegfliegt.
Auf der ganzen Welt gibt es Zikaden, die jedes Jahr aufs Neue Nachwuchs haben. Doch diese Insekten sind anders. Die Gattung Magicicada – im Namen steckt das Wort magisch – umfasst insgesamt sieben nur im Osten der USA verbreitete Arten.
An 15 verschiedenen Orten gibt es solche Zikaden-Bruten, die alle 13 oder 17 Jahre schlüpfen. Das führt dazu, das beinahe jedes Jahr eine andere Gegend mit den rotäugigen Insekten überzogen wird. Im vergangenen Jahr war es ein relativ kleiner Bereich um die Blue Ridge Mountains in Virginia, dazu Teile von West-Virginia und Tennessee. Im kommenden Jahr wird es Iowa treffen mit Ausläufern von Illinois und Missouri, dazu Louisiana und Mississippi.
Bis zum Mond und zurück
Die diesjährige Invasion, „Die Brut II“, zählt zu den größten. Die Experten tun sich schwer mit Schätzungen, wie viele Zikaden unter der Erde warten, um in den kommenden Wochen ans Licht zu kriechen. Die Schätzungen reichen von 30 Milliarden bis zu einer Billion. Selbst wenn es „nur“ 30 Milliarden sind: Würde man die Tiere hintereinander aufreihen, ergäbe das eine Strecke bis zum Mond und wieder zurück.
„Es wird einige Orte geben, da werden die Zikaden ganze Flächen komplett abdecken“, sagt der Entomologe Mike Raupp von der Universität Maryland. Die zahlenmäßige Stärke ist der Schlüssel zum Überleben für die Zikaden: Es gibt so viele von ihnen, dass die Vögel sie nicht alle auffressen können. Die, die überleben, können sich dann fortpflanzen, sagt Insektenkundler Raupp.
Für den langen Zyklus von 13 oder 17 Jahren gibt es unterschiedliche Erklärungen. Einige Wissenschaftler glauben, das trage ebenfalls zum Überleben bei. Natürliche Feinde könnten sich nicht auf diese Zyklen einstellen und seien nicht in großer Zahl vorhanden, wenn die Zikaden an die Oberfläche strömten. Andere glauben, die Zyklen sollten verhindern, dass sich die unterschiedlichen Bruten nicht in die Quere kommen.
Insekten mit cleveren Mathe-Kniffen
Ein Geheimnis ist es bislang, woher die Tiere wissen, dass ihre Zeit genau nach 17 Jahren gekommen ist – und nicht nach 15 oder 16. „Die Jungs haben ein paar clevere Mathe-Kniffe entwickelt“, sagt Raupp. „Gemessen an ihrem winzigen Gehirn sind sie Genies.“
Bei den vergangenen Zikaden-Invasionen waren gab es pro Acre (gut 4.000 Quadratmeter) bis zu 1,5 Millionen Tiere. Die meisten Landstriche entlang der Ostküste werden jedoch nicht mit den rotäugigen Käfern überschwemmt werden. Und auch in den Städten wird man kaum Tiere zu Gesicht bekommen.
Wenn die Magicicadas unter der Erde sind, schlafen sie nicht. Mit 13 bis 17 Jahren gehören sie zu den Insekten mit dem höchsten Lebensalter überhaupt. Sie durchlaufen mehrere Wachstumsstadien und häuten sich vier Mal, bevor sie an die Oberfläche gelangen. Als erstes kommen die Männchen, noch ohne Flügel. Sie kriechen auf Äste, häuten sich nochmals und werden so zu den ausgewachsenen Zikaden mit Flügeln. Dann sitzen sie in den Bäumen und singen. Allein oder im Chor. Und wenn ein Weibchen vorbeikommt tanzen sie erst und paaren sich schließlich.
Etwa 600 Eier legt ein Weibchen auf die Enden der Äste. Der Nachwuchs stürzt sich von dort hinunter auf die Erde und gräbt sich ein. „Es ist ein tückisches und gefährliches Leben“, sagt Raupp. „Aber irgendwie bekommen sie es hin.“
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