Inobhutnahme durch das Jugendamt: Wenn die Mama als Risiko gilt
Das Jugendamt Hannover nimmt einer Frau ihren Säugling weg, obwohl sie versuchte, sich das Leben zu nehmen, als ihre früh geborenen Zwillinge starben.
„Die wollen sie in eine Pflegefamilie geben“, sagt Schulepa. „Ich kann das nicht zulassen.“ Für die 28-jährige Frau ist das Schreiben ein besonderer Schock, weil sie vor zehn Jahren Zwillinge kurz nach der Geburt verloren hat. Danach versuchte sie, sich selbst zu töten und war in psychologischer Behandlung. „Die Vorstellung, ihr Kind abzugeben, hat zu einer psychischen Destabilisierung geführt“, attestiert nun ihr Hausarzt.
Eine Inobhutnahme durch das Jugendamt ist bei einer „dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes“ vorgesehen. Widersprechen die Erziehungsberechtigten, muss das Jugendamt das Familiengericht entscheiden lassen.
Das hannoversche Jugendamt begründete die Inobhutnahme Schulepa zufolge mit ihrer Medikamentenabhängigkeit. Gegenüber der taz stellte die Pressestelle der Stadt Hannover eine Stellungnahme für den heutigen Dienstag in Aussicht.
Dauerschmerzen nach dem Kaiserschnitt
Nach ihrem Kaiserschnitt vor zehn Jahren habe sie andauernd Schmerzen gehabt, erzählt Schulepa, und immer stärkere Schmerzmittel genommen – zuletzt Tilidin, ein Opioid, das körperlich abhängig machen kann – auch das ungeborene Kind. „Andere Mütter verschweigen solche Sachen“, sagt Schulepa. „Ich wollte ehrlich sein wegen meines Kindes.“ Sie habe mehrfach versucht, das Medikament in der Schwangerschaft abzusetzen, sei jedoch daran gescheitert und habe dann die Dosis in Absprache mit ihrem Arzt reduziert.
Trotzdem habe das Kind am dritten Tag nach der Geburt Entzugserscheinungen gezeigt, sagt Schulepa. „Sie war vermehrt unruhig.“ Aber es sei nicht so, dass Amela beispielsweise nicht richtig esse. „Sobald ich sie auf dem Arm habe, ist alles gut.“
Das Jugendamt habe Schulepa aufgefordert, einen Entzug zu machen. „Ich kann mich nicht wochenlang stationär behandeln lassen“, sagt die 28-Jährige jedoch. Sie habe deshalb am vergangenen Freitag mit einem kalten Entzug begonnen, der von ihrem Arzt ausweislich des Attests überwacht wird. Dem Amt reiche das aber nicht. Erst wenn sie über Wochen nachweisen könne, dass sie das Medikament nicht mehr nehme, könne sie ihr Kind zurückbekommen, habe die Sachbearbeiterin ihr gesagt, berichtet Schulepa. Im Krankenhaus darf sie ihre Tochter besuchen.
„Sie ist bei uns nicht in Gefahr“, sagt Schulepa, die mit ihrem Lebensgefährten zusammenlebt und mit diesem bereits eine elfjährige Tochter großzieht. Die taz hatte über die Familie berichtet, da sie aus ihrer alten Wohnung in Hannover zwangsgeräumt wurde und versucht hatte, sich gemeinsam mit Aktivisten des Netzwerks „Wohnraum für alle“dagegen zu wehren.
Unklar ist, warum das Amt den Vater bei dem aktuellen Verfahren außen vor lässt. Der hat es zwar versäumt, die Vaterschaft anzuerkennen, das wäre aber mit einer einfachen Erklärung gegenüber einer amtlichen Stelle mit Zustimmung der Mutter zu bewerkstelligen. „Die wissen, dass mein Mann der Vater ist“, sagt Schulepa, „das Jugendamt kennt uns ja.“
Der ehemalige Abteilungsleiter der Jugendhilfe in Hamburg, Wolfgang Hammer, findet, der Fall weise auf ein „hochaktuelles Thema“ hin: nämlich dass der Kinderschutz auch zu einer staatlichen Kindeswohlgefährdung werden könne.
Übereifrige Behörden
„Wenn eine Mutter zusammen mit dem Vater ihre Erziehungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat, wäre eine Inobhutnahme nicht nur inhuman, sondern auch rechtswidrig“, sagt er. Wenn das Medikament verschrieben gewesen sei und die psychischen Probleme länger zurücklägen, wüsste er nicht, wo die Gründe für eine Inobhutnahme liegen sollten.
Hammer erkennt in diesen Fällen ein Muster. 27 Fälle aus dem ganzen Bundesgebiet hat er auf Basis einer Aktenauswertung und Hintergrundgesprächen untersucht. „Das Grundmuster ist, dass manche Jugendämter noch so entfernt liegende Risiken ausschließen wollen und dafür das Risiko in Kauf nehmen, die Kinder ohne Not ihren Eltern wegzunehmen“, sagt der Jugendhilfeexperte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles