Initiative für Wohnungs-Enteignungen: Was im Grundgesetz steht
Ein Volksbegehren in Berlin verlangt, Wohnungskonzerne zu vergesellschaften. Ist das erlaubt? Sprechen wir dabei über Enteignung?
Warum diskutiert Deutschland derzeit über die Sozialisierung von Wohnungen?
Im Stadtstaat Berlin haben linke Gruppen in diesen Tagen ein Volksbegehren gestartet, um Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen zu vergesellschaften. So sollen günstige Mieten für rund 200.000 Berliner Wohnungen garantiert werden. Das Vorhaben hat in Umfragen hohe Sympathiewerte, weil die Mieten in Berlin in den vergangenen Jahren massiv gestiegen sind.
Was sagt das Grundgesetz?
Das Grundgesetz erlaubt in Artikel 15 solche Sozialisierungen: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“
Seit wann gibt es diesen Artikel?
Er war schon bei der Entstehung des Grundgesetzes 1949 darin enthalten. Allerdings war dies kein Novum. Schon in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 gab es einen ähnlichen Artikel.
Warum wurde diese Vorschrift ins Grundgesetz aufgenommen?
Die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien war kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein auf breiter Ebene diskutiertes Thema. Sogar die CDU Nordrhein-Westfalen forderte in ihrem Ahlener Programm, das „kapitalistische Gewinn- und Machtstreben“ durch eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ zu ersetzen. Auch die westlichen alliierten Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich standen der deutschen Industrie wegen ihrer Verbundenheit mit dem NS-Regime skeptisch gegenüber.
Was ist der Unterschied zwischen Sozialisierung (Artikel 15) und Enteignung (Artikel 14 III)?
Artikel 15 ermöglicht nicht nur die Enteignung einzelner Grundstücke und Gegenstände, sondern ganzer Wirtschaftsbranchen.
Wie oft wurde von dieser Vorschrift Gebrauch gemacht?
Bisher kein einziges Mal. In den 1950er Jahren drehte sich die Stimmung schnell, als im kapitalistischen Westdeutschland das „Wirtschaftswunder“ gelang, während im Staatssozialismus der DDR schlechtere Lebensbedingungen herrschten. Um wirtschaftspolitische Ziele zu erreichen, ist es im Allgemeinen effizienter, den Unternehmen per Gesetz Regeln vorzugeben als sie mit viel Geld zu verstaatlichen. Artikel 15 enthält keinen Auftrag zur Sozialisierung, sondern nur eine Ermächtigung.
Ist bei der Sozialisierung das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten?
Ja. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist immer zu beachten, wenn der Gesetzgeber oder die Behörden in Grundrechte eingreifen. Es besagt, dass ein Eingriff geeignet und erforderlich sein muss. Der Nachteil darf im Vergleich zum angestrebten Nutzen nicht unproportional sein. Zumindest bei Eignung und Erforderlichkeit hat der Staat aber einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum.
Muss der Staat bei einer Sozialisierung die bisherigen Eigentümer entschädigen?
Ja. Wie bei einer Enteignung ist auch eine Sozialisierung nur gegen Entschädigung möglich. Da es hier schnell um Milliardensummen gehen kann, wirkt auch die Entschädigungspflicht als Sozialisierungsbremse.
Muss zum Verkehrswert entschädigt werden?
Nein. Die Höhe der Entschädigung ist laut Grundgesetz „unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten“ zu bestimmen. Dies muss nicht immer der Verkehrswert sein. Es kann zum Beispiel berücksichtigt werden, dass dem Eigentum alternativ auch einschränkende gesetzliche Regeln hätten auferlegt werden können. Jedenfalls sind die Hoffnungen auf zukünftigen Wertzuwachs und zukünftige Gewinne nicht zu entschädigen.
Ist das Eigentum das wichtigste Grundrecht, das es im Kapitalismus gibt?
Verfassungsrechtlich ist das deutsche Grundrecht auf Eigentum eines der schwächsten Grundrechte. Denn der Inhalt des Eigentums wird durch den Gesetzgeber definiert. Wenn der Gesetzgeber Regeln zum Gebrauch des Eigentums aufstellt, hat der Eigentümer dies grundsätzlich zu akzeptieren. Ein Beispiel ist der Kündigungsschutz im Mietrecht oder im Arbeitsrecht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu