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Inflationsrate ist existenzbedrohendKaum Geld für Süßigkeiten

Überall auf der Welt werden Lebensmittel teurer. Ob hierzulande oder in Marokko, vor allem Rent­ne­r*in­nen und Kinder müssen jeden Cent umdrehen.

Muss für manche Kinder auch hierzulande derzeit zurück ins Regal: Schokoladen-Nikolaus Foto: Jochen Tack/imago

N eulich im Supermarkt stand ich hinter den Kassen neben zwei Senior*innen. Das bescheidene Rent­ne­r*in­nen­pär­chen sah so aus, als sei es jahrzehntelang durch dick und dünn gegangen.

Beide klammerten sich an einen langen Kassenbon, vor ihnen ein mit Alt-Herren-Schokolade und anderen kleinen Sünden gefüllter Einkaufswagen. Sie lächelten hinter ihren Masken. Sie hatten ihre Treuepunkte eingelöst und ihren kleinen Einkauf günstiger ergattert. Die beiden mussten lange Punkte sammeln und Geld ausgeben, um in den Genuss dieses Rabatts zu kommen. Die Freude über das Schnäppchen in diesen schwierigen Zeiten schien unbezahlbar zu sein.

Ich habe in den vergangenen Monaten beobachtet, dass in Lebensmittelgeschäften immer mehr Menschen vor Regalen stehen, sich doppelt und dreifach Gedanken machen, ob ein Produkt in ihren Einkaufskorb wandert oder nicht. Es gibt in Deutschland einen Index für Konsumlaune. Doch geht es bei vielen nicht um eine Laune, sondern um Kalkulationen und Existenz.

Neulich irrte eine Mutter durch den Discounter mit Einkaufszettel und Rechner-App auf dem Handy. Das Kind quengelte, drohte, jeden Moment in einen Wutanfall überzugehen. Es wollte unbedingt eine dieser Süßigkeiten haben, die ungenießbar sind, die Kids aber schamlos mit ihren Lieblingstrickfilmen als Werbung locken.

Die Mutter ging auf Augenhöhe in die Hocke und erklärte mit ruhiger Stimme, es sei nicht im Budget. Das Kind nickte und packte die Süßigkeit brav zurück ins Regal. So bedrohlich ist die Lage gerade, dass Kinder kampflos auf Transfette und Industriezucker verzichten.

Existenzsorgen überall

Nicht nur hierzulande ist es existenzbedrohend geworden. In Marokko existieren als koloniales Erbe in den Köpfen der Menschen mehrere Währungen: 10 Dirham (offizielle Währung) machen 200 Rial (vor allem für Ü60er im einst von Spanien besetzten Norden), 1.000 Francs (im Landesinneren, wo der französische Kolonialismus wütete) oder einen Euro (für Auslandsmaroks). 10 Dirham, so viel kostete bis vor Kurzem auch ein Zuckerhut, der zwei Kilo wiegt.

Vor allem für Arme waren Zuckerhüte lange eine vertrauenswürdige und stabile Währung. Man konnte sie in Läden kaufen und wieder verkaufen. Schenkte sie gerne als Geldanlage weiter.

Heute kostet ein Zuckerhut fast 15 Dirham (1,50 Euro). Die Teuerungsrate ist für viele Menschen eine Katastrophe. In anderen ärmeren Regionen dieser Welt sieht die Lage nicht besser aus. Kinder und Rent­ne­r*in­nen machen sich überall Gedanken und Existenzsorgen.

Es stellt sich die Frage, ob wir als Menschheit nicht grundsätzlich anders über Wachstum, die Renditen der Superreichen, die Globalisierung und den Kapitalismus an sich nachdenken und Wirtschaften menschenfreundlich gestalten sollten. So dass sich alle Zucker leisten können.

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Mohamed Amjahid
Mohamed Amjahid ist freier Journalist und Buchautor. Seine Bücher "Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken" und "Let's Talk About Sex, Habibi" sind bei Piper erschienen. Im September 2024 erscheint sein neues, investigatives Sachbuch: "Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt" ebenfalls bei Piper.
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4 Kommentare

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  • Schöner Artikel, Herr Amjahid. Ebenso wie Sie wünsche ich allen Kindern dieser Welt, dass diese nicht auf Süßigkeiten verzichten müssen.

    Doch woran liegt es, dass so viele Sachen teurer werden?

    Hier in Deutschland lag die Kerninflation schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine bei 5,5 Prozent. Tendenz steigend.

    Energie- und andere Kriegskosten trieben den Rest.

    Das Hauptproblem sind Schulden. Globale rund 300 Billionen Dollar Schulden.

    Das ist dreimal mehr als die gesamte Welt in einem Jahr produziert, verkauft, handelt, dienstleistet etc.

    Die EZB kauft z. B. für Billionen Euros Staatsanleihen um die Schuldenberge Europas von 13 Billionen Euro finanzieren zu können. Anleihen, Zinsen etc.

    Dafür muss sehr viel Geld gedruckt werden, welches keinen realen Gegenwert an Gütern usw. mehr hat.

    Es existiert zu viel Geld in Europa, den USA, Japan, China und den meisten anderen Ländern dieser Welt.

    Und je mehr Geld existiert und der Gegenwert an Gütern nicht mehr vorhanden ist, desto höher steigen die Preise.

    In etwa: Kostet eine bestimmte Ware 100 Euro, steht dem in einer gesunden Volkswirtschaft der Gegenwert von 100 Euro Geld gegenüber.

    Druckt die EZB (oder die Bundesbank) aber zehn Prozent mehr, verteuert sich die Ware um zehn Prozent.

    Vermutlich werden wir noch sehr viel Inflation sehen. Diese ist seit einer Reihe von Jahren angekündigt, da die Schulden auf der Welt noch niemals so hoch waren wie heute.

    Marokko hat im Ländervergleich Afrikas übrigens mit etwa 80 Milliarden Dollar (ca. 80 Prozent des BIP) noch sehr geringe Schulden.

    Deutschland ist mit 2,5 Billionen Euro verschuldet, schaut man auf die versteckten Schulden kommt man auf über 14 Billionen Euro.

    Andere sind noch schlimmer dran. Im Grunde ist Europa, die ganze Welt pleite.

    Schulden sind das Unsozialste was es gibt.

    Am Schluss leiden immer die Armen.

    Die Frage ist also, warum machen manche Gesellschaften so hohe Schulden?

    Das einzige schuldenfreie Land der Welt ist übrigens Brunei.

    • @shantivanille:

      Eine sehr vereinfachte (und in Teilen falsche) Darstellung eines komplexen Sachverhalts. Nur so viel: Schulden und zu viel gedrucktes Geld sind nicht die Ursache der derzeitigen Inflation, da dürfen wir uns ruhigen Gewissens an die derzeitigen Krisen halten.

  • Warum steht da "Senior*innen" aber Mutter und nicht 'Eltern? Wenn genderneutral dann bitte komplett.

    • @Aneoul:

      Kennen Sie den Unterschied zwischen Mutter und Eltern nicht ?