Inflation in der Türkei: Türkische Lira im freien Fall
Trotz Geldentwertung senkt die türkische Zentralbank ihren Leitzins erneut. Ärmere Menschen leben nur noch von Nudeln, Brot und ein paar Eiern.
In der Türkei rechnet des Statistische Amt offiziell mit einer Inflation von 20 Prozent. Unabhängige Experten gehen jedoch davon aus, dass die tatsächliche Inflation rund doppelt so hoch ist und Lebensmittel sogar von einer Inflation von 50 Prozent betroffen sind. Vor allem ärmere Haushalte ernähren sich deshalb nur noch von Nudeln, Brot und gelegentlich einem Ei. „Was anderes“, sagten Markthändler am Mittwoch, „können sich viele gar nicht mehr leisten.“
Die Preise steigen unter anderem deswegen so rasant, weil durch die Zinssenkungen die türkische Lira immer mehr an Wert verliert und Importe deshalb ständig teurer werden. Schon vor der am Donnerstag verkündeten Zinssenkung war die Lira stark unter Druck geraten und verzeichnete immer neue historische Tiefststände im Verhältnis zum Dollar und zum Euro. Für einen Euro musste man 12 Lira zahlen, der Dollar tendierte auf 11 Lira zu. Mit der neuen Entscheidung der Zentralbank wird sich die Talfahrt der Lira weiter fortsetzen.
Erdoğan ist der Meinung, dass die Inflation durch hohe Zinsen hervorgerufen wird und außerdem die Wirtschaft durch niedrige Kreditzinsen angekurbelt werden soll. In seiner Rede am Dienstag beklagte er aber, dass die türkischen Unternehmer sich trotz seiner Niedrigzinspolitik mit Investitionen zurückhielten. Er scheint aber dennoch entschlossen zu sein, seinen Kurs fortzusetzen.
Erdoğan duldet keine Kritik
„Mit Leuten, die die Zinsen erhöhen wollen, kann ich nicht zusammenarbeiten“, sagte er. Aus diesem Grund hat er seit 2019 bereits drei Zentralbankchefs gefeuert, der amtierende Chef Şahap Kavcıoğlu ist ein reiner Befehlsempfänger. Deshalb hat er seit seiner Berufung im März auch bereits dreimal den Leitzins gesenkt, jeweils mit verheerenden Folgen für die Lira.
Allein in diesem Jahr ist der Wert der Lira im Verhältnis zum Dollar um ein Drittel gefallen. Der einzige Minister, der Erdoğans Kurs noch gelegentlich zumindest indirekt kritisiert, ist Finanzminister Lütfi Elvan. Beobachter gehen davon aus, dass Erdoğan ihn demnächst entlassen wird.
Denn Kritik an seiner Wirtschaftspolitik duldet Erdoğan nicht. Just am Donnerstag standen 39 Personen, darunter sechs Journalisten, in Istanbul vor Gericht, weil sie vor drei Jahren im Kurznachrichtendienst Twitter angekündigt hatten, der Dollar würde bald 10 Lira kosten, wenn Erdoğan seinen Kurs fortsetze. Sie sind wegen Verunglimpfung und Panikmache angeklagt. Jetzt kostet der Dollar bereits 11 Lira.
Der Analyst Timothy Ash von BlueBay Asset Management sagte der französischen Nachrichtenagentur AFP, Erdoğans Wirtschaftskurs sei „wirklich gefährlich für die Lira und die Türkei“. Die Zinssenkung sei „ein buchstäblich verrückter Schritt“, erklärte Ash laut Reuters.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?