Industriebrache zum Medienzentrum

■ Neues Leben bei Nordwolle: Delmenhorster Expo-Beitrag verspricht Jobs durch Telearbeit / Kritik von Gewerkschaften

Wer Delmenhorst mit der Bahn durchquert, passiert Industriegeschichte: Entlang der Gleise erstreckt sich das zum Industriedenkmal aufpolierte – oder herabgesunkene – Fabrikareal des alten Nordwolle-Konzerns. Die hohen Backsteinmauern, in die sich der Ruß hineingefressen hatte, sind aufwendig renoviert worden. Die Fassaden erscheinen wieder im Rostrot der Gründerjahre.

1884 hatte der Bremer Martin Christian Lahusen vor den Toren der Hansestadt mit dem Bau eines Produktionsstandorts für den später weltumspannenden Familienkonzern begonnen. Aus den Bremer Importhäfen wurde Schurwolle aus Australien oder Argentinien per Eisenbahn direkt auf das Fabrikgelände geliefert, dort zu Kammgarn gesponnen und anschließend auf den deutschen Markt befördert. In den zwanziger Jahren waren hier bis zu 5.000 ArbeiterInnen beschäftigt. Nach dem Zusammenbruch der Spinnerei 1981 war „die Wolle“nur noch eine Erinnerung an die längst verstrichene Ära wirtschaftlicher Macht.

Das soll sich nun wieder ändern – wenn die Expo kommt. Delmenhorst hat sich erfolgreich als Außenstandort für die Weltausstellung in Hannover beworben. Das Geld kommt zum größten Teil von der Immobilienfirma Steucon AG, die mit der kreisfreien Stadt eine gemeinsame Projektgesellschaft gegründet hat: die Nordwolle Delmenhorst Projekt 2000 GmbH.

„Wir präsentieren ein Modell für zukunftsweisendes Wohnen und Arbeiten“, erklärt Uwe Kiupel, Prokurist der GmbH: Telearbeit im Informationszeitalter. Die stellt sich Kiupel so vor, daß künftig auch Führungspersonen wie etwa die Chefredakteurin einer Tageszeitung ihre Arbeit von zu Hause aus erledigen und sich gleichzeitig um ihre Kinder kümmern können sollen. „Die Wohnungen müssen groß sein und Kinderzimmer sowie Arbeitsräume haben.“Und mit moderner Hard- und Software ausgestattet sein. Die Verbindung zur Redaktion funktioniert via Online-Verbindungen mit Bilddisplay.

225 solcher Service-Wohnungen sollen auf einem zwölf Hektar großen Ausschnitt des Geländes entstehen, nach außen geprägt von der Architektur des ausgehenden Industriezeitalters, innen ausgestattet mit einem Studio, das über ein Glasfasernetz mit allen anderen Wohnungen sowie mit der Außenwelt verbunden ist.

Ergänzt werden sollen die Heimarbeitsplätze durch ein Medienzentrum im Woll-Lager, in dem 15 Firmen Computeranimationen, Business-TV-Features und ähnliches produzieren. Rund 120 Arbeitsplätze könnten hier entstehen.

Dieses Argument zündet offenbar auch bei den Kommunalpolitikern. Delmenhorst sei als Industriestandort groß geworden, habe dort aber auch die größten Rückschläge erlitten, erklärt SPD-Oberbürgermeister Jürgen Thöle. „Uns bleibt nicht viel anderes übrig, als auf den Dienstleistungssektor zu setzen.“Auch die Grünen, die in Hannover lautstark gegen die „Milliardenschleuder Expo“zu Felde ziehen, streiten in Delmenhorst eher über die Priorität, die das Projekt genießt, als daß sie es ganz in Frage stellten. Das ist nicht verwunderlich, stellt doch die Stadt jährlich lediglich knapp 700.000 Mark bereit, mit denen Sach- und Personalleistungen für ein ebenfalls entstehendes Zentrum „für altengerechtes Servicewohnen“bezahlt werden, hinzu kommen laut Thöle „vereinzelte Beteiligungen an kleineren Projekten“, die aber „kaum zu Buche“schlügen.

„Man kann der Stadt nicht vorwerfen, hier Millionen rauszuwerfen“, sagt der Vorsitzende der grünen Stadtratsfraktion, Hartmut Meyer. Allerdings habe er den Eindruck, daß das Nordwolle-Gelände über Gebühr gefördert werde und andere sanierungsfähige Grundstücke wie das der früheren Caspari-Kaserne vernachlässigt würden.

Mehr Kritik kommt von den Gewerkschaften, die die Konzentration auf Teleheimarbeitsplätze für schwierig halten. Die Fürsprecher der Expo, so Jürgen Schurig, Vorsitzender der örtlichen IG Medien, hätten eine „märchenhafte Auffassung“von telegestützter Heimarbeit. „In erster Linie befördert sie die Isolation.“Er glaube auch nicht an nachhaltige Arbeitsplatzeffekte im Multimediabereich. Im gleichen Tempo, in dem neue Stellen entstünden, würden manuelle Dienstleistungen überflüssig gemacht.

Michael Hollmann