Indischer Kommunist Yechury: „Das hat es noch nie gegeben“
Sitaram Yechury, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens, über sozialistische Politik im Land. Wahlerfolge seien nicht das einzige Mittel.
taz: Herr Yechury, Indien hatte einst eine starke linke Bewegung, heute gibt es sie fast nur noch im südlichen Bundesstaat Kerala. Können Sie das erklären?
Sitaram Yechury: Seit den 1950er Jahren ist die kommunistische Bewegung in Kerala tief verwurzelt, zunächst als Teil des antikolonialen Kampfes gegen die britische Herrschaft bis 1948. Die Verbindung zwischen der kommunistischen Bewegung und dem Freiheitskampf ist daher tief und macht Kerala bis heute zu einem wichtigen Zentrum linker Ideologie und Massenbewegung. Westbengalen ist ebenfalls ein linker Bundesstaat geblieben, aber wir sind nicht in der Lage, dies dort wie in Kerala an der Wahlurne zu demonstrieren.
In Indien wird gerade landesweit gewählt. Wie würde sich eine stärkere Vertretung der Linken im indischen Parlament auswirken?
Von einer größeren Präsenz zusammen mit legislativen Erfolgen kann die indische Bevölkerung profitieren. Im Jahr 2004 gab es 61 linke Abgeordnete. Damals wurden wichtige Gesetze wie das Recht auf Zugang zu Informationen, auf garantierte Mindestarbeitstage oder die Rechte der indigenen Bevölkerung auf den Weg gebracht.
Wie wirken sich die demografischen Veränderungen in Indien auf die kommunistische Bewegung aus?
Sie erfordern Anpassungsfähigkeit, denn Erwerbstätige arbeiten heute viel stärker in Sektoren wie IT und Dienstleistungen. Unsere Arbeit muss diese Veränderungen widerspiegeln: Früher war es reine Gewerkschaftsarbeit, heute ist unsere Bewegung viel breiter aufgestellt.
71, ist Generalsekretär der marxistisch-kommunistischen Partei Indiens CPI (M) und seit 1992 Mitglied dessen Politbüros. Von 2005 bis 2017 saß er im Oberhaus des indischen Parlaments
Welchen Einfluss haben linke Kräfte noch auf die indische Politik?
Um die Bedeutung der Linken beziehungsweise der CPI (M) zu verstehen, braucht es zwei Maßstäbe: Der eine sind die Wahlergebnisse, bei denen wir zurückgefallen sind. Der zweite ist die Fähigkeit, die Agenda des Landes durch Massenbewegungen zu bestimmen. Hier hat der Einfluss der Linken zugenommen. Wenn man sich die letzten Jahre ansieht, dann war die größte Massenbewegung die der indischen Bauern 2020/21, bei der die Linke eine sehr wichtige Rolle spielte. Die Regierung von Premierminister Modi wurde gezwungen, Landwirtschaftsgesetze zurückzunehmen – das hat es noch nie gegeben. Aus diesen Gründen sieht die Regierung die Linke als verantwortlich für die Mobilisierung von Arbeitenden an, die gegen die im Land fortschreitende Privatisierung zugunsten von großen Konzernen sind.
Gibt es weitere Erfolge?
Als die amtierende Regierung versuchte, politische Korruption durch anonymisierte Wahlanleihen zu legitimieren, war es die CPI (M)-Petition, der der Oberste Gerichtshof stattgab, da die Partei keine dieser Wahlanleihen angenommen hatte. Kurz nach deren Einführung 2018 gingen wir vor Gericht. Das indische Rechtssystem hat sechs lange Jahre gebraucht, um das Urteil zu sprechen: Die Wahlanleihen sind verfassungswidrig und die Justiz fordert, dass die Namen der Parteispender offengelegt werden müssen.
Von dieser Aufarbeitung profitiert die Opposition. Doch warum bekämpfen sich in Indien regional linke Parteien wie ihre CPI (M) und die liberalere Kongresspartei?
In Kerala konkurrieren die Linke und die Kongresspartei bei den Wahlen vor allem darum, dass die rechte Regierungspartei BJP nicht an Boden gewinnt. Diese strategische Konfrontation sorgt dafür, dass die BJP in Kerala marginalisiert bleibt.
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