Indische Autorin Meena Kandasamy: Hinter verschlossenen Türen
Meena Kandasamy ist eine politische Autorin und Feministin. Ihr Roman „Schläge“ erzählt von häuslicher Gewalt im intellektuellen Milieu.
Die Thomson-Reuters-Studie stuft Indien als das gefährlichste Land für Frauen ein. In keinem anderen Land seien sie mit einem derartigen Ausmaß an Gewalt konfrontiert. 2012 sorgte der Fall einer 23 Jahre alten Studentin, die von sechs Männern stundenlang vergewaltigt und gefoltert wurde, für weltweites Entsetzen; inzwischen gibt es sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag zum Thema. Vergewaltigung, heißt es dort, sei die vierthäufigste Straftat gegen indische Frauen. So weit, so empörend.
Positiv hervorzuheben ist, dass indische Frauen inzwischen immer öfter auf die Straße gehen und sich den Mund nicht mehr so leicht verbieten lassen. Dieses Aufbegehren spiegelt sich auch in der indischen Literatur wider, in politischen Wutreden und neuen durchdringenden Stimmen. Eine von ihnen gehört Meena Kandasamy. Die 1984 in Tamil Nadu geborene und mittlerweile in London lebende Autorin ist mit unverschämten Gedichten bekannt geworden, eine Auswahl ist 2014 im Verlag Das Wunderhorn unter dem Titel „Fräulein Militanz“ auf Deutsch erschienen.
Das ist beileibe keine „moonshine poetry“, sondern engagierte Lyrik, die von Schlampenherrlichkeit ebenso viel spricht wie von Gruppenvergewaltigungen. Im selben Verlag erschien zwei Jahre später auch die deutsche Übersetzung von Kandasamys erstem Roman „Reis & Asche“, der für den Dylan Thomas Prize und den DSC Prize for South Asian Literature nominiert war.
Darin erzählt sie vom Massaker in Kilvenmani in Tamil Nadu. Dort wurden im Jahr 1968 an Weihnachten 44 Landarbeiter*innen, darunter Kinder und Frauen, in einer Hütte verbrannt. Es handelte sich um Dalits, die im indischen Kastensystem als „Unberührbare“ gelten. Ihr Vergehen? Sie hatten sich der kommunistischen Partei angeschlossen und es gewagt, ihre Stimmen zu erheben.
Harsche Kritikerin des Kastensystems
Die eminent politische Autorin und kämpferische Feministin Meena Kandasamy gehört selbst der Kaste der Dalits an und gibt das Magazin The Dalit heraus. In ihren Essays und Büchern erweist sie sich als harsche Kritikerin des Kastensystems und des Patriarchats. Unbefangen kritisiert sie Gandhi und ist auf allen Social-Media-Kanälen aktiv. Auf Twitter kämpft sie für die Freilassung des inhaftierten Aktivisten und Poeten Varavara Rao, auf Instagram postet sie Bilder ihrer Kinder, und auf Facebook wirbt sie für ihre Lesungen.
In einem Fernsehinterview bezeichnete sie sich kürzlich als „unashamed feminist“. Dabei tritt sie keineswegs laut auf, spricht auch eher leise. In ihrer Literatur indes lässt es die Autorin krachen. Bei CulturBooks ist jetzt ihr Roman „Schläge“ in der smarten Übersetzung von Karen Gerwig erschienen.
Das Buch ist eine Sensation und überhaupt der einzig aktuelle Titel von literarischem Rang, der einem spontan zum Thema häusliche Gewalt im intellektuellen Milieu in den Sinn kommt. Kandasamy erzählt darin eine Geschichte, die nah an ihrer eigenen scheint. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Autofiktionen ihrer französischen Kolleg*innen, man denke an Didier Eribon oder Annie Ernaux.
Im Untertitel nennt sich Kandasamys Buch „Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau“, was auf James Joyce’ „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“, erschienen 1916, anspielt. Es gibt durchaus Parallelen zwischen den Büchern, das Spiel mit dem Alter Ego, das Leben zwischen gesellschaftlichem Zwang und künstlerischem Ausdruck, den Bewusstseinsstrom.
Eine erschütternde Geschichte
Auch Kandasamy erzählt einen Künstler*innen-Roman aus der Innenperspektive und darüber hinaus eine erschütternde Geschichte, wie sie nicht nur in Indien tagtäglich geschieht. Die Ich-Erzählerin stammt aus Chennai, dem vormaligen Madras, der Hauptstadt von Tamil Nadu.
Es handelt sich um eine aufgeweckte, junge Autorin wie Kandasamy, und wie diese heiratet auch sie früh einen Mann, den sie nach wenigen Monaten wieder verlässt. Die Ich-Erzählerin ist Feministin und Schriftstellerin, doch unter der Knute ihres tyrannischen und gewalttätigen Ehemannes mutiert ihr Leben zum schlechten Film.
Ihr Mann kontrolliert sie, verbietet ihr so gut wie alles, verdächtigt sie, Sex mit anderen zu haben, schlägt und vergewaltigt sie, wie es ihm gefällt. Das einst von Virginia Woolf geforderte Zimmer für sich allein beschränkt sich für die Erzählerin auf die Küche, dort darf oder vielmehr soll sie herrschen.
Währenddessen gebärdet sich ihr Mann immer paranoider, cholerischer, brutaler. Ein Albtraum. Wer jetzt denkt, die Lektüre dieser Schilderungen müsse ein ebensolcher Albtraum sein, hat sich geschnitten. Unwahrscheinlicherweise schafft es Meena Kandasamy, die Geschichte in einem Ton zu erzählen, der ebenso geistreich wie leicht ironisch und auch sarkastisch daherkommt.
Leidenschaft beim Rhythmus des fünfhebigen Jambus
Es gibt viele komische Stellen in dem Buch, so etwa, wenn die Ich-Erzählerin mutmaßt, was ihre Eltern über sie sagen: „Meine Mutter denkt, ich sei eine von diesen Frauen, die sich so sehr in die englische Literatur vertiefen, dass meine einzig wahre Liebe für immer Shakespeare gelten und mich Leidenschaft und Lust für immer nur beim Rhythmus des fünfhebigen Jambus überkommen wird.“
Es sind Sätze wie diese, die dem Buch ungeheuren Charme verleihen. Meena Kandasamy schreibt heutig, schnell, kurz und erweist sich als mit allen Wassern der Postmoderne gewaschen. Sie mischt Stile, Erzählhaltungen, Textformen und spricht die Leser*innen immer mal wieder direkt an.
Selbst etwaige Kritik integriert sie in ihr Buch. Langeweile kommt bei all den literarischen Winkelzügen jedenfalls keine auf. Den einzelnen Kapiteln stellt sie sachdienliche Motti voran, von Wisława Szymborska, Elfriede Jelinek, Anne Sexton und anderen, beinahe nur Frauen. Darunter auch Frida Kahlo, die wusste: „Letztendlich können wir viel mehr ertragen, als wir denken.“
Das trifft auch auf die Ich-Erzählerin zu, die sich zwischen Schweigen und Sagen gefangen fühlt: „Ich kann mit niemandem darüber reden, was hinter unseren verschlossenen Türen geschieht. Im Moment bin ich nicht einmal sicher, ob ich mit jemandem darüber reden möchte.“
Die Scham einer intelligenten, emanzipierten Frau
„Schläge“ erzählt auch von der Scham, als intelligente, emanzipierte Frau zugeben zu müssen, sich mehr gefallen zu lassen, als man selbst vor sich und der Welt vertreten kann. Mit der Veröffentlichung des Buches stellt Kandasamy diese Scham aus. Als Volte zum Schluss bietet das Buch noch ein Nachwort unter der Überschrift „Leute, denen Sie dieses Buch unbedingt zu lesen geben sollten“.
Meena Kandasamy: „Schläge“. Aus dem Englischen von Karen Gerwig. CulturBooks Verlag, Hamburg 2020, 259 Seiten, 22 Euro
Auf Englisch ist derweil schon ihr nächstes Buch erschienen: „Exquisite Cadavers“. Darin treibt Kandasamy ihr metafiktionales Erzählen weiter voran, erzählt in Parallelmontage von einem Paar und von sich selbst. Das Buch sei eine direkte Reaktion auf die Kritiken zu ihrem Roman „Schläge“, den viele als Memoir missverstanden hätten, ließ sie verlauten.
Diesmal möchte sie sichergehen, dass ihr Roman und ihr eigenes Leben auseinandergehalten werden. In einem Interview verglich sie „Schläge“ mit Magrittes berühmtem Gemälde „Der Verrat der Bilder“, auf dem eine Pfeife und der Schriftzug „Ceci n’est pas une pipe“ abgebildet sind.
In diesem Sinne erzählt das Buch nicht von der häuslichen Gewalt, die Kandasamy womöglich am eigenen Leib erlebt hat, sondern es stellt diese Art von Gewalt dar. Ein wichtiger Unterschied, weil er den Schlüssel zu ihrer Selbstermächtigung birgt. So lässt sie Ihre Ich-Erzählerin sagen: „Ich erinnere mich an den wesentlichen Punkt, den es ausmacht, eine Autorin zu sein. Eine Autorin ist jemand, die die Fäden der Erzählung in der Hand hält.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“