Indigener Aktivismus in Brasilien: Instagram statt NGO
Brasiliens Indigene werden nicht erst bedroht seit Bolsonaro Präsident ist. Junge Aktivist:innen nutzen soziale Netzwerke, um darüber zu sprechen.
Es ist kurz nach Jahresbeginn, als Alice Pataxó beschließt, Twitter zu ihrem Tagebuch zu machen. Wenn Pataxó hier nun über ihr Essen schreibt, geht es auch darum, wie konsumiert wird. Schreibt sie über Kleidung, geht es auch um Aneignung und Wertschätzung, um Stereotype und Schönheitsideale. Und wenn sie über ihren Wohnort schreibt, geht es um Zugänge und Marginalisierung, darum, welche Räume Indigenen zugestanden werden.
All das führt dann zu den Themen Vertreibung und Ausbeutung, Rassismus und Kolonialismus. Von alltäglichen Beobachtungen zu großen Fragen – das kann Alice Pataxó sehr gut.
Menschen wie sie wurden zuletzt immer sichtbarer in Brasilien. Pataxó gehört mit Kaê Guajajara zu einer neuen Generation von jungen Indigenen, die eigenmächtig ihre Geschichten erzählen. Sie nutzen dafür soziale Netzwerke und haben eine große Reichweite. Was Pataxó und Guajajara da machen, gab es so bisher noch nicht. Sie brechen mit verstaubten Vorstellungen der brasilianischen Mehrheitsgesellschaft – das ist das eine. Das andere: Sie brechen auch mit den traditionellen politischen Instrumenten ihrer Vorfahren. Sie sprechen nicht auf Klimakonferenzen, gründen keine NGOs, sind nicht in Parteien. Sie sind auf Twitter, Instagram und Tiktok.
Es ist Ende September als die 19-jährige Pataxó in ihrem Dorf Aldeia Craveiro im brasilianischen Bundesstaat Bahia im Wohnzimmer sitzt und über Zoom mit der taz spricht. Pataxó trägt ein metallenes Septumpiercing statt des Holzstäbchens, das sie oft auf Instagram trägt – zu unpraktisch sei das derzeit, sagt sie, es pikst unter dem Mund-Nasen-Schutz.
Konstruierte Geschichte
„Die Geschichte Brasiliens wurde so konstruiert, dass sie die Geschichten der Indigenen auslöscht. Viele Menschen kennen unsere Geschichten nicht. Es gibt zum Beispiel junge Leute, die glauben, Indigene seien die eigentlichen Eindringlinge, die sich Land nehmen. Dabei leben wir auf Gebieten, die unsere Vorfahren bewohnt haben“, sagt Pataxó. „Wir sind hier, um über solche Dinge zu sprechen.“
Mittlerweile folgen ihr über 50.000 Menschen auf Twitter, eine mit über acht Millionen täglich aktiven Nutzenden in Brasilien relevante und vor allem unter jungen Menschen beliebte Plattform – zum Vergleich: In Deutschland sind es Schätzungen zufolge etwas über eine Million. Auch auf Instagram folgen Pataxó über 20.000 Menschen, seit Juni hat sie zudem einen Youtube-Kanal namens „Nuhé“, auf Deutsch „Widerstand“. Pataxó macht Threads, in denen sie Kostüme kritisiert, die Indigene nachahmen.
Wie wenig Wissen über Indigene in der brasilianischen Mehrheitsgesellschaft verankert ist, wird besonders sichtbar, wenn sie offene Fragerunden für Menschen macht, die ihr folgen: Dürfen Indigene und Nichtindigene heiraten? Was ist das lange Ding an deiner Nase? Und wieso sprichst du Portugiesisch? Wie stehen Indigene zu Homosexualität?
„Hier in unserem Dorf ist das kein wirkliches Thema, alle haben neben einem gemeinschaftlichen Leben auch ein privates Leben, in das sich niemand einmischt, also alles ganz entspannt“, sagt Pataxó zur letzten Frage. Sie ist selbst bisexuell spricht offen darüber, um sichtbar zu machen, dass es selbstverständlich auch sie gibt: queere Indigene.
Besondere Art des Erzählens
Pataxó möchte das Wissen der brasilianischen Mehrheitsgesellschaft über Indigene dekolonisieren. Oft bedeutet das, Dinge erst einmal sichtbar zu machen. Es sei anstrengend, sagt Pataxó, Grundlegendes immer wieder erklären zu müssen. Andererseits scheinen es viele wirklich nicht besser zu wissen. Ihr gelingt es, auf eine Weise zu erklären, dass man mehr erfahren möchte. Gleichzeitig ist sie so direkt, dass es kaum möglich ist, ihre Beiträge zu sehen, ohne sich selbst zu fragen: Was habe ich eigentlich damit zu tun?
Wobei Pataxó nicht über alles so offen spricht: Sie twittert teilweise in ihrer Sprache, für ihre indigene Community. Wie Therapie sei das, sagt sie. Immer wieder wird sie aber auch gebeten, Begriffe ins Portugiesische zu übersetzen. Pataxó zieht hier eine Grenze. „Jetzt finden die Leute unsere Sprache plötzlich cool, aber es war meinen Vorfahren verboten, unsere Sprache zu sprechen, sie mussten portugiesisch sprechen“, sagt sie.
„Nur wenige Menschen sprechen unsere Sprache fließend, vor allem junge Leute wie ich lernen das langsam wieder. Das ist ein schmerzhafter Rettungsprozess, bei dem wir Wunden unserer Ältesten berühren. Ich halte es nicht für richtig, Nichtpataxós unsere Sprache beizubringen.“
Alice Pataxó, die indigene Studentin, lebt zwischen zwei Welten, zwischen Großstadt und Dorf, als queere Instagrammerin in einem Land mit einem LGBTQ-feindlichen, rechtsextremen Präsidenten. Sie kritisiert die brasilianische Mehrheitsgesellschaft, weil diese Indigene als rückständig abstempelt, und im selben Atemzug problematisiert sie, dass indigene Frauen häufig jung heiraten und Kinder kriegen.
Ambivalenz sozialer Netzwerke
Wie für Pataxó sind soziale Netzwerke auch für Kaê Guajajara Werkzeuge. Es gebe aber eine feine Linie zwischen den Möglichkeiten von Social Media und dem Risiko, sich kapitalistischer Dynamik zu unterwerfen, nur auf Klicks zu achten und zu vergessen, wieso man eigentlich tut, was man tut. „Aber alte Präsidenten gehen, neue Präsidenten kommen, und es ändert sich nichts: Der Genozid geht weiter“, sagt sie.
Um das Jahr 1500 lebten nach Angaben der Behörden auf dem heutigem Gebiet Brasiliens drei Millionen Indigene, in den 1950ern waren es zwischenzeitlich nur noch 70.000. Mittlerweile leben laut dem aktuellsten Zensus von 2010 817.962 Indigene auf brasilianischem Territorium. Das meint Guajajara mit „Genozid“, aber auch die Verbrechen, die gegenwärtig stattfinden: das Eindringen in geschützte Gebiete und die Rodungen, die Marginalisierung im urbanen Raum, im Gesundheitssystem, auf dem Arbeitsmarkt.
Guajajara kam über Musik zu den sozialen Medien: Sie ist Sängerin, während des Zoom-Gesprächs mit der taz sitzt sie im Tonstudio, neues Album, zwischen ihren Antworten raucht Guajajara. Sie bezeichnet sich als „artevista“, eine Mischung aus den portugiesischen Worten für Kunst („arte“) und Aktivistin („ativista“). Zwar nutzt sie Instagram, um ihre Musik zu verbreiten, diese handelt aber von politischen Kämpfen. Und die Musik wird dann online zum Anlass der Interaktion über politische Themen.
Geboren wurde Guajajara im nördlichen Brasilien, in einer Gegend, die nicht offiziell als indigenes Land gilt. Guajajaras Familie wurde dort sesshaft, nachdem sie aus mehreren Regionen vertrieben worden war, zog letztlich aber nach Rio de Janeiro, wo Guajajara in der Favela aufwuchs. „Viele von uns ziehen auf der Suche nach einem besseren Leben in große Städte.“ Kaê Guajajara, 26 Jahre alt, wohnt nun außerhalb Rios, ihre Mutter arbeitet bis heute als Reinigungskraft in den Hochhäusern der Großstadt.
Aufklären, aber zu den eigenen Bedingungen
Wenn Kaê Guajajara sich im urbanen Raum bewegt, wird sie angestarrt, weil sie einen Burger isst, erzählt sie, oder weil sie ihr Handy benutzt. „Auch wenn ich keine Bemalungen und keinen Haarreif trage, wird meine Anwesenheit hinterfragt. Leute wollen wissen, was ich hier mache.“ Am Anfang habe sie dieser Rassismus hart getroffen – aber er habe sie auch politisiert. Sie begann zu rappen, teilte die Musik online.
Sie möchte damit ihre Kämpfe sichtbar machen und auch aufklären, aber zu ihren Bedingungen: „Ich möchte meine Zeit nicht damit verplempern, Weiße zu erziehen.“ Als sie online sichtbarer wurde, beantwortete sie immer wieder dieselben Fragen, bis sie dachte: Wäre es nicht gut, wenn ich einfach ein PDF rumschicken könnte, auf dem alles steht? Dann schrieb sie im Kollektiv ein antirassistisches Buch.
Alice Pataxó und Kaê Guajajara wollen trotz der vielen Anfeindungen weitermachen. „Es gibt noch immer so viele Dinge, die mir widerfahren, von denen die Leute keinen Schimmer haben“, sagt Pataxó. „Ich glaube wirklich, dass unsere Geschichten etwas verändern können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen