piwik no script img

In schlechten ZeitenDie Lüge vom Ende, das ein Anfang sein soll

In der Trauer bleiben manchmal nur Phrasen, die Mut machen sollen. Unsere Kolumnistin ist aber nicht bereit, den Tod als einen neuen Anfang zu sehen.

Der Sommer ist alt geworden, Melancholie hat mich gepackt Foto: Pia Bayer/dpa

I ch sitze im Zug von Kiel nach Hamburg, es ist Sonntag, und mir ist eben gerade eingefallen, dass ich meine Kolumne schon am Freitag hätte abgeben wollen. Ich habe es vergessen, weil ich sozusagen Urlaub hatte. Sachen sind passiert, Menschen sind gestorben. Einer, der ein guter Freund war. Und das Leben drängt. Mach dies, mach jenes! Termine.

Niemand ist schuld, nicht am Tod, nicht an den Terminen. Ich habe in meinem Leben nicht besonders viel Stress. Ich kann Sachen verschieben. Aber dann merke ich, dass jetzt, weil ich mich ein paar Tage um nichts gekümmert habe, so ein Lebensstau entstanden ist. Die Tage waren komplett ausgefüllt. Es waren sehr volle Tage, aber sie waren mit Dingen ausgefüllt, die nichts mit Terminen zu tun hatten.

Jetzt fahre ich heim, der Zug ist voll, die Leute haben Mühe, ihre Koffer zu verstauen, ich nehme an, sie sind auf der Rückfahrt aus dem Urlaub. Der Sommer ist alt geworden, die Brombeeren vertrocknen schon, die Pflaumen werden reif. Die Trockenheit setzt den Bäumen zu, das Gras ist noch grün. Die Wespen sterben, nachts ist es kühl. Wahrscheinlich wird es noch wieder warm werden, im September bestimmt, sogar im Oktober kann es schöne Tage geben. Und wer sagt denn, dass die kühlen Tage – Tage wie heute, wo der Himmel bedeckt ist, wo ein anständiger Wind wehte, als ich in den dunklen See schlüpfte, in die kalten Wellen hinein –, nicht schön sind?

Melancholie hat mich gepackt, und ich frage mich immer wieder, wo führt das alles hin? Diese Frage scheint mir leer und dumm. Ich weiß nicht einmal, worauf sie abzielt. Ich bin nur melancholisch, es ist ein süßes Gefühl, wie überreife, angeschlagene Äpfel. Schwelgerisch traurig.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ich sitze im Zug und lese „Kegelbahn“, an einer Hauswand, sehe die quadratischen Einfamilienhäuschen an mir vorbeifahren, während sie gar nicht fahren, sondern ich, aber darauf kommt es nicht an. Doppelschaukeln, Deutschlandfahnen in Vorgärten, schmuddelige, kleine Pools, messerscharfe Hecken, Kuhweiden, Lagerhallen, Windräder, Lkw-Aufleger, Wohnmobile, Gartenlauben, das ist Deutschland. Ich bewege mich nicht hier weg und finde mich damit ab. Überall, wo ich bin, kann ich nur sein. Aber immer überall ich.

Was ist nur mit mir los? Es gibt keine guten Sätze, wenn einer gestorben ist. Jeder Satz klingt falsch und wie schon mal gesagt. Alles, was ist, liegt in der Vergangenheit, jede Gegenwart ist nur Täuschung.

Meine Brille liegt auf dem kleinen Abfallbehälter unter dem Zugfenster, die Frau neben mir liest ein Buch mit orangem Schnitt. Das ist jetzt beliebt, dass die Bücher einen farbigen Schnitt haben. Der Zug ist vorübergehend stehen geblieben, kleine gelbe Blumen wiegen sich im Schotter, zwischen den Gleisen. Ich nehme an, sie sind zufrieden mit ihrem Platz. Ich bin auch zufrieden mit meinem Platz. Mein Platz ist mein Geschenk. Ich habe ein gutes Leben. Das ist die Wahrheit. Ich wünschte nur, alle meine lieben Menschen würden so lange am Leben bleiben wie ich. Ein kindlicher Wunsch.

Der Zug hat sich wieder in Bewegung gesetzt. Es geht voran. Es geht zu Ende. Der Sommer. Das Leben. Ich gewöhne mich dran, mein ganzes Leben lang schon. Wir halten in Neumünster. Auf dem Schild über einer Tür steht, „Kreta. Griechisches Restaurant“. 1990 war ich in Kreta, das erste Mal im Ausland, das Ende der DDR war gerade verkündet worden. Jedes Ende ist ein Anfang. Das ist eine Lüge. Ein Ende ist nichts als ein Ende.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Schriftstellerin
Mehr zum Thema

0 Kommentare