In Kyjiw ohne Strom und Wasser: Der Kühlschrank summt nicht
Der Krieg hat alltägliche Wahrnehmungen verändert. Unser Autor schildert, wie er sich über Dinge freut, die sonst eher auf die Nerven gehen.
L iebe taz-Auslandsredaktion,
Die Frau am Kiosk drückt auf einen Knopf, der große Kühlschrank vor dem Kiosk summt. Man kann ihn also öffnen. Ich entnehme ihm die ersten zwei Flaschen Mineralwasser. „Wieso haben Sie jetzt nicht gleich Ihre vier Flaschen rausgenommen?“, fragt sie bestürzt, „jetzt ist der Schrank zu.“ Ich verstehe nicht, wo das Problem sein sollte: „Dann mache ich ihn eben noch mal auf.“ Zu spät. „Das geht nicht mehr. Eben ist der Strom ausgefallen“, antwortet sie. „Ich kann Ihnen Gebäck anbieten, aber Getränke gibt es erst wieder, wenn Strom da ist.“
Ich fahre weiter mit meinem Rad – Richtung Innenstadt. Heute ist ein Literaturabend mit einer Open Mic-Veranstaltung. Da kann jeder ein Gedicht vortragen, Witze erzählen oder Lieder singen.
Bei der Fahrt in die Innenstadt merke ich, wie sehr sich doch Befindlichkeiten verändern. Nun freut man sich über Dinge, die sonst eher auf die Nerven gehen, z.B. das Summen eines Kühlschranks oder Staus. Und Staus gibt es am frühen Abend jede Menge, vor allem, wenn wieder mal einige Ampeln ausgefallen sind.
Die Fahrt in die Innenstadt bei einbrechender Dunkelheit wäre geradezu beängstigend, wenn es keine Staus gäbe, sind doch bei fast völlig abgeschalteter Straßenbeleuchtung die Autos die einzige Lichtquelle. Und je näher man dem Zentrum kommt, umso mehr Licht gibt es. Am Platz vor dem Goldenen Tor gibt es sogar immer Beleuchtung, jeden Abend bis zur Ausgangssperre. Eine Freude für die Straßenmusiker.
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar war ich nicht mehr bei meinem Literaturabend. Und so freue ich mich darauf, dass es heute wieder so weit ist. An diesem Abend kann man sich entspannen – bei einer Tasse Tee oder einem Bier und Gedichten über das Leben, die Liebe, die Einsamkeit und die Heimat. Früher, also vor dem russischen Überfall, waren die Abende auf Russisch und Ukrainisch. Jetzt spricht hier niemand mehr russisch.
Das Verhältnis zur russischen Sprache ist schon sehr widersprüchlich. Im Fernsehen, bei öffentlichen Veranstaltungen und kulturellen Events hört man Russisch gar nicht mehr. Gleichzeitig bieten die meisten führenden Internetportale ihre Inhalte auf Russisch und Ukrainisch an. Auch privat wird viel Russisch gesprochen.
Mein Problem beim Kulturabend ist nun: Ich bringe mich immer ein, spiele mit meiner Gitarre einige Lieder. Bisher waren das meistens Lieder des 1997 verstorbenen georgisch-armenischen Liedermachers Bulat Okudschawa. Nun bin ich in einem Dilemma: Okudschawa war kein Russe, er war damals gegen den Tschetschenien-Krieg und wäre heute sicherlich gegen den Krieg gegen die Ukraine. Auf der anderen Seite: Seine Lieder sind nun mal auf Russisch. Schweren Herzens entscheide ich mich, ihn nicht zu spielen. Das hätte mir noch gefehlt, eine Schlagzeile, wie „Deutscher singt auf ukrainischer Kulturveranstaltung russische Lieder.“ Und so entscheide ich mich für Il est trop tard und Joseph von Georges Moustaki.
Kann man sich im Krieg entspannen? Jetzt, wo täglich hunderte getötet werden, jeden Augenblick neue russische Luftangriffe möglich sind? Nur mal an Literatur denken und Lieder singen? Man kann es und man muss es. Einfach deswegen, weil man sich nicht vom Angreifer das eigene Leben fremdbestimmen lassen darf.
Hätte nie gedacht, dass man panikfrei und acht Stunden täglich ohne Strom leben kann. Man muss sich eben dem Strom unterordnen und alle Tätigkeiten wie Essen, Sport treiben und Gitarre spielen auf die Zeiten verlegen, in denen der Strom weg ist.
Aber es gibt auch bedrückenden Momente. Zum Beispiel, wenn man nachts (und die Nacht beginnt im Kyjiwer Winter um 18 Uhr) zu seiner Wohnung zurückradelt. Die letzten zweihundert Meter schiebe ich das Rad. Zum einen, weil diese Straße nicht von Eis und Schnee geräumt ist. Zum anderen aber auch, weil Fahrradfahrer bei den hier lebenden streunenden Hunden einen Jagdtrieb auslösen, während sie sich für Fußgänger nicht interessieren.
Und wenn man in völliger Dunkelheit durch den Schnee stapft und im Lichtkegel der Fahrradlampe nur Schnee sieht, in einigen Fenstern Akkulampen oder Kerzen erblickt, ist einem wirklich nicht nach Romantik zumute.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Wie er die US-Wahl gewann
Die Methode Trump