In Gagausien herrscht die Nostalgie: Der ewige Lenin
In Gagausien, eine Region im Süden der Republik Moldau, blickt eine deutliche Mehrheit der Bewohner nach Moskau. Europa ist den Menschen fremd.
Wladimir Lenin trägt Anzug, Wintermantel und eine Kappe, die seinen kahlen Kopf bedeckt. In der rechten Hand hält er ein Buch, die linke Hand steckt in der Manteltasche. Im Zentrum von Comrat, dem Verwaltungszentrum der autonomen Region Gagausien in der Republik Moldau, blickt der Gründer der Sowjetunion auf die wenigen Fußgänger herab, die die nach ihm benannte Leninstraße entlang eilen. Ein typisches Lenin-Denkmal, von denen es in der Sowjetunion einst Tausende gab. Mancherorts steht so ein Denkmal noch, wie in Moldau.
„Es ist wichtig, unsere Erinnerung zu bewahren. Das Denkmal darf nicht zerstört werden, denn es ist unsere Geschichte, unser Leben und das, was wir kennen. Warum sollten wir eine Version der Geschichte akzeptieren, die wir nicht anerkennen?“, fragt die Rentnerin Ana, als sie auf das Lenin-Denkmal in Comrat angesprochen wird.
„Im Kommunismus ging es mir gut“, sagt Ana. Sie trägt schwere Taschen, für ihr Alter ist sie zügig unterwegs. „Selbst als wir damals nur 100 Rubel bekamen, hat das für alles gereicht“, sagt sie.
Die Gagausen stimmten in einem Referendum am 20. Oktober 2024, das am selben Tag wie der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen stattfand, deutlich gegen die Integration der Republik Moldau in die Europäische Union. 94,84 Prozent der Wähler Gagausiens entschieden sich gegen diese außenpolitische Ausrichtung, die die regierende Partei für Aktion und Solidarität (PAS) vorgeschlagen hatte. Die Argumente der Gegner: „Wir haben Angst, dass es hier auch einen Krieg geben wird, wie in der Ukraine“, „Wir wollen nicht in Europa sein, weil es dort Armut gibt oder „Sie haben Schwulenparaden und werden das Geschlecht unserer Kinder ändern“ – allesamt bekannte russische Propagandanarrative.
1994 bekam Gagausien seinen Sonderstatus
Die Gagausen sind ein Turkvolk mit orthodoxer Religion und einer starken Sympathie für Russland und prorussische Politiker – ein Erbe der Russifizierung zu Sowjetzeiten, das durch die russische Propaganda nach der Unabhängigkeit der Republik Moldau 1991 bewahrt wurde. Sie leben in drei Gebieten im Süden Moldaus auf einer Fläche von 1.800 Quadratkilometern – etwa fünf Prozent des moldauischen Territoriums. Ihre Autonomie erlangten sie nach einem gescheiterten Separationsversuch, ähnlich der Region Transnistrien.
1994 verabschiedete die prorussische moldauische Regierung eine Verfassung, die Gagausien einen Sonderstatus einräumte. 1995 wurde ein Gesetz über die Schaffung der territorialen Verwaltungseinheit Gagausien verabschiedet, um die gagausische Kultur und Sprache zu erhalten sowie der Region steuerliche Anreize zu bieten. Dennoch kämpft Gagausien noch immer gegen die Integration in die moldauische Gesellschaft. So sprechen hier nur wenige Rumänisch.
Als Moldau 2014 das Assoziierungsabkommen mit der EU ratifizierte, wurde in Gagausien ein eigenes Referendum abgehalten. Dabei sprach sich eine Mehrheit nicht für die EU aus, sondern für die russisch dominierte Zollunion. Das Referendum wurde in Moldaus Hauptstadt Chișinău für illegal erklärt.
Ana klagt über ihre Rente von 2.000 moldauischen Lei (etwa 100 Euro) und die hohen Lebenshaltungskosten, vor allem für Gas. „Die heutige Präsidentin Maia Sandu hätte nach Moskau reisen sollen, um mit Wladimir Putin über billigeres Gas zu verhandeln“, sagt sie.
„Die Russen haben uns nichts Böses getan“
„Ich verstehe nicht, warum die Russen als Feinde wahrgenommen werden. Unsere Kultur ist russisch. Alles um uns herum ist russisch. Die Russen haben uns nichts Böses getan“, sagt Ana. „Damals, zu Sowjetzeiten, sind wir alle gut miteinander ausgekommen.“ Sie ist überzeugt, dass die Russen Frieden wollten – auch in der Ukraine. Es sei die ukrainische Armee, die Zivilisten töte. Es scheint, als ob für einen kurzen Moment das russische Propagandafernsehen angeschaltet wurde.
Auch der 43-jährige Unternehmer Maxim teilt ihre Meinung zum Denkmal: „Ich habe in der Schule über Lenin gelernt und Gedichte über ihn gelesen. Ich kann nichts Schlechtes an dem Denkmal finden. Wir sollten bewahren, was wir haben.“ Obwohl er während der Sowjetzeit noch ein Kind war, hat er positive Erinnerungen an die Sowjetunion, denn „niemand war anders, alle waren gleich“. Spricht man ihn auf die Deportationen Andersdenkender in jener Zeit an, gibt er zu, dass in der UdSSR nicht alles gut gewesen sei. „Es gab Gutes und Schlechtes“, sagt er schließlich.
Hinter der Lenin-Statue in Comrat befindet sich das Exekutivkomitee, die lokale Regierung. Die Region wird von Ilan Shor kontrolliert, einem moldauischen Oligarchen, der Moldaus Justiz entkam, israelischer und russischer Staatsbürger ist und in Russland lebt. Die lokale Regierungschefin in Gagausien ist die 38-jährige Evghenia Guțul, die mit Shors Unterstützung ins Amt kam. Guțul wird oft als Shors „Marionette“ bezeichnet, da sie keine politische Erfahrung hat und in der Öffentlichkeit kaum präsent ist.
Nicht nur russische Narrative, sondern auch Geld haben das antieuropäische Votum in Gagausien beeinflusst. Zehntausende Menschen aus der gesamten Republik Moldau, einschließlich Gagausiens, wurden bestochen, um beim Referendum mit Nein zu stimmen. Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft sowie eine Recherche der Zeitung Ziarul de Gardă ergaben, dass diese Zahlungen über die russische Staatsbank Promsvyazbank abgewickelt wurden, die internationalen Sanktionen unterliegt. Ein dafür eigens aufgebautes Netzwerk auf dem gesamten Gebiet der Republik Moldau koordinierte Ilan Shor von Moskau aus.
Die Flagge Gagausiens und Russlands haben dieselben Farben
Nach dem Referendum nahm die Polizei Dutzende Personen dieses Netzwerkes fest. Viele bekannten sich schuldig und sagten aus. Diejenigen, die ihre Stimmen verkauft haben, riskieren erhebliche Geldstrafen von umgerechnet bis zu 2.000 Euro.
Auf die Europäische Union setzt Tatjana große Hoffnungen. Sie ist Beamtin in der Verwaltung, Mitte 40. „Ich bin für die EU. Ich sehe darin viele Chancen, auch wenn die Zukunft ungewiss bleibt. Aber wir wollen Veränderungen. Wir haben in der Sowjetunion gelebt, wir waren mit Russland zusammen, jetzt wollen wir sehen, wie das Leben in der EU ist“, sagt sie. Tatjana bedauert den gegenwärtigen Zustand Gagausiens, das jetzt von der Shor-Gruppe kontrolliert werde und korrupt sei. „Ich verstehe, dass die Menschen arm sind, aber nicht so arm, dass sie sich für ein paar Rubel verkaufen und ausnutzen lassen müssen.“
Die Flagge der Region Gagausien hat die gleichen Farben wie die der Russischen Föderation, nur in anderer Reihenfolge. Die Mehrheit der Bevölkerung spricht Russisch. Gagausisch und Rumänisch sind weit weniger verbreitet. Das Referendum über die europäische Integration der Republik Moldau verlief trotz der klaren Ablehnung in Gagausien insgesamt positiv. Knapp über die Hälfte der Wähler in der Republik Moldau stimmten für eine Änderung der Verfassung. Nur 10.574 Stimmen machten am Ende den Unterschied zwischen Ja und Nein bei dem Referendum.
Am 3. November fand die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Die proeuropäische Staatschefin Maia Sandu sicherte sich eine zweite Amtszeit. In Gagausien erhielt sie nur knapp drei Prozent der Stimmen. Doch nach der Wahl ist vor der Wahl. 2025 stehen Parlamentswahlen an. Diese werden die Menschen erneut auf die Probe stellen. Werden sie den europäischen Weg weitergehen? Als EU-Beitrittskandidat muss Moldau noch viele Reformen durchführen und zukünftige Regierungen müssen dabei entschlossen handeln.
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