Impfstoff und Verteilungsgerechtigkeit: You first, me second

Wer bekommt den Impfstoff gegen Covid-19 zuerst? Impf-Prioritäten müssen an universelle Menschenrechte gekoppelt sein.

Riesige Spritze wird eine Treppe hinaufgereicht

Illustration: Katja Gendikova

Pünktlich zum Advent erreichen uns ermutigende Nachrichten: Die Zulassung der ersten neu entwickelten Anti-Covid-19-Impfstoffe ist beantragt. Sobald die Zulassung auf der Basis der üblichen Kriterien von Sicherheit und Wirksamkeit erfolgt ist, kann spätestens zu Beginn des nächsten Jahres mit umfangreichen Impfkampagnen begonnen werden. Freilich ist zumindest in den ersten Monaten von erheblichen Knappheitsproblemen auszugehen. Denn selbst wenn schnell ausreichende Mengen an Impfstoffen produziert werden könnten, müssen diese erst noch mittels einer komplizierten Logistik verteilt und dann von Impfteams den Impfwilligen verabreicht werden. Und diese Knappheiten betreffen nicht nur Deutschland, sondern die internationale Gemeinschaft insgesamt.

Staatlich autorisierte Rangfolgen sind notwendig. Wer priorisiert, der will das Windhund- und Ellenbogenprinzip verhindern: Nicht die Schnellsten oder Rücksichtslosesten kommen in den Genuss des Gesundheitsvorteils Impfschutz, sondern diejenigen, die nach akzeptablen Kriterien bevorzugt werden. Wer bestimmte Personen vorzieht, stellt andere hintan. Deshalb müssen die Kriterien hierfür gut begründet und dann auch konsequent angewendet werden. Sonst sind sie inakzeptabel. Priorisierungsentscheidungen berühren medizinisch-epidemiologische wie ethische und rechtliche Aspekte. In Deutschland hat der Bundesgesundheitsminister deshalb eine „Gemeinsame Arbeitsgruppe“ aus Mitgliedern der Ständigen Impfkommission beim RKI, der nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie des Deutschen Ethikrates beauftragt, solche Kriterien zu entwickeln, der Öffentlichkeit zur Diskussion und dem Gesetzgeber für seine Entscheidungen zur Verfügung zu stellen.

Die ethischen Prinzipien, die die Gemeinsame Arbeitsgruppe ihren Priorisierungsempfehlungen zugrunde legt, sind zwar nicht sonderlich originell, dafür aber evident und weitgehend konsensfähig. Im Mittelpunkt steht – neben Nichtschädigung und Wohlergehen – Gerechtigkeit in Form von Fairness und Rechtsgleichheit. Diese Grundprinzipien begründen das Kriterium der höheren Dringlichkeit einer Gefahrenabwehr durch Impfschutz: zuerst diejenigen mit einem extrem hohen Risiko, an Covid-19 schwer zu erkranken oder gar zu sterben (zum Beispiel Hochaltrige und spezifisch Vorerkrankte); sodann diejenigen, die anlass- oder berufsbedingt sich selbst und in der Folge andere besonders Gefährdete anstecken können (etwa in Gesundheitsberufen Tätige); und schließlich Personen(gruppen), die in anderen öffentlichkeitsrelevanten Berufen und Funktionen einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind und bei krankheitsbedingtem Ausfall nur mit großen Problemen ersetzt werden können.

Kein Kriterium bildet die bessere Erfolgsaussicht. Das mag überraschen. Sollten nicht möglichst die zuerst geimpft werden, die schnell erreicht werden, bei denen die Immunantwort möglichst stark ist, deren Leistungsfähigkeit das Gemeinwohl am meisten sichert und fördert? Aber dieses Kriterium führte unweigerlich dazu, dass Jüngere (deren Immunantwort ist im Schnitt stärker, und sie leben durchschnittlich noch länger) oder Fittere (deren Leistungsfähigkeit ist besser geschützt) bevorzugt werden müssten. Nützlichkeitserwägungen dürfen bei Impfstrategien zweifellos eine Rolle spielen. Welche Verteilungssysteme oder Impfzentren sind möglichst effi­zient? Welche Impfstoffe sind für welche Personengruppe besonders effektiv? Nützlichkeitserwägungen dürfen aber nicht in utilitaristischer Manier die Oberhand gewinnen. Sie sind eingeklammert durch die universale Geltung der Menschenwürde und der Menschenrechtsansprüche aller. Das heißt: Jede Form einer Bewertung des Lebens und jede Form der Diskriminierung aufgrund des Alters, der Lebenserwartung, der Leistungsfähigkeit und so weiter ist kategorisch ausgeschlossen.

Dies gilt auch im internationalen Kontext. Die Pointe universaler ethischer Prinzipien ist: Sie gelten nicht nur überall, sondern vor allem für alle. Menschenrechte bilden eine Klammer um wirklich alle Menschen. Sie lassen sich nicht auf Na­tio­nalstaaten begrenzen, sondern setzen nationalen Grenzziehungen selbst eine Grenze: Nur innerhalb globaler Menschheitsinteressen haben nationale Regelungen einen legitimen Platz. Das gilt gerade auch für Impf(stoff)-Priorisierungen.

Die Versuchung ist groß, das eigene Knappheitsproblem und mit ihm die Notwendigkeit von Priorisierungen zu mildern, indem man sich für das eigene Land privilegierte Zugriffsrechte auf Impfstoffe sichert und dabei die berechtigten Ansprüche anderer stumpf übergeht. Diese Gefahr ist real: In den vergangenen Monaten wurden wir und wir werden bis heute Zeug*innen solch brachialer Egoismen des „Me first“. Prominentes Beispiel: der Versuch der abgewählten US-Administration, sich durch den Erwerb des Tübinger Biotech-Unternehmens Curevac das ausschließliche Zugriffsrecht auf den dort entwickelten Impfstoff zu sichern. Dagegen gilt: Der Verschaffungsanspruch von Bürger*innen gegenüber ihrem eigenen Staat auf Schutz ihrer Gesundheit entpflichtet niemals von jenen Verbindlichkeiten, die um der Menschenrechte aller willen einen gerechten Zugang zu Impfstoffen für alle Staaten ermöglichen. Gelegentlich wird um Akzeptanz mit dem Argument geworben, die deutsche Gesundheit würde auch am Kap der guten Hoffnung gesichert und verteidigt. Das mag sachlich vielleicht zutreffen, weil neue Coronahotspots auf Deutschland zurückwirken. Deshalb sei eine großzügige Belieferung im eigenen Interesse. Das ist ethisch aber nur nachgeordnet bedeutsam. Was letztlich allein zählt, ist der menschenrechtliche Anspruch auf Gesundheits- und Lebensschutz der dort bedrohten Bevölkerung – um ihrer selbst willen und nicht unseretwegen.

Erfreulich ist deshalb: Die deutsche Bundesregierung, die Europäische Kommission und die Weltgesundheitsorganisation setzen derzeit vieles in Bewegung, damit die künftig verfügbaren Impfstoffe allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung gestellt und nationale Egoismen unterbunden werden. Dies kann handels- wie patentrechtlich sogar so weit gehen, dass in Zeiten der Pandemie Zwangslizenzen für die Produktion von Impfstoffen erteilt und diese für wenig zahlungskräftige Drittstaaten etwa des globalen Südens kostengünstig zur Verfügung gestellt werden. Zwar hat sich die Bundesregierung auch über die EU eine erhebliche Anzahl von Impfdosen vertraglich gesichert. Gleichwohl unterstützt sie mit der EU und der WHO die internationale Global Alliance for Vaccines and Immunisation, die die Impfstoffverteilung an rund 2 Milliarden Menschen auch in nicht zahlungsfähigen Ländern sicherstellen soll. Hier gilt die klassische Priorisierungsregel: statt der privilegierten Bestversorgung einiger weniger (Länder), zuerst die Basisversorgung möglichst aller.

Gelegentlich wird solches Handeln für bedürftige Dritte Solidarität genannt. Auch der Gemeinsame Arbeitskreis bezieht sich auf dieses ethische Prinzip: Stärkere stellen ihre berechtigten Ansprüche zugunsten Schwächerer zurück: You first, me second! Viele fühlen sich zur Solidarität motiviert, weil sie die Menschheit in einem Boot sitzend wähnen. Doch dieses Bild trügt. Die Pandemie mag uns zwar alle treffen; sie trifft uns aber höchst ungleich.

Schon im globalen Norden vertiefen sich die sozialen Spaltungen: Die einen haben wie schon in Zeiten der Pest oder Cholera ausreichend Rückzugsmöglichkeiten, wo sie die durch Lockdowns verursachten Sekundärschäden der Pandemie ausreichend materiell abgesichert abfedern können. Andere hingegen verlieren mit ihrer Erwerbstätigkeit die Grundlage ihrer Existenz. Und während im globalen Norden die Kapazitäten an Intensivbetten ausgebaut werden, wäre jeder Euro, den ein Land wie Mali in die Beschaffung von Beatmungsgeräten steckte, eine Investition in die Schutzprivilegien einer kleinen Oberschicht und eine weitere Schwächung der elementaren Gesundheitsversorgung für den überwiegenden Teil einer ohnehin verarmten Bevölkerung.

Solche sozialen Spaltungslinien sind auch für Covid-19-Impfstrategien relevant. National wäre tatsächlich zu fragen, ob sich die Impfziele auf die Verhinderung schwerer Covid-19-Verläufe, auf weitere Übertragungen oder auf die Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen und des öffentlichen Lebens beschränken können. Die Weltgesundheitsorganisation geht in ihren Impfprio­risierungsempfehlungen deutlich weiter. Sie ergänzt die medizinischen Impfziele durch die Orientierung an der Wiederherstellung der psychosozialen Entwicklung sowie elementarer so­zialer und ökonomischer Sicherheit. Man mag diese Impfziele in Deutschland für entbehrlich halten, weil staatliche Unterstützungen solche Folgeschäden abfedern. Für viele Länder des globalen Südens hingegen sind sie für das Gros der Bevölkerung aber an dringlichsten.

In den meisten Ländern Afrikas nimmt die Covid-19-Pandemie einen anderen Verlauf als in unseren Breitengraden. Schon die erheblich jüngere Bevölkerung oder die geringe Verbreitung ernährungsbedingter Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen dämpft offensichtlich das Ausmaß schwerer Covid-19-Verläufe. Auf der anderen Seite dürfte das pandemiebedingte Aussetzen von Impf- und Behandlungsmaßnahmen gegen Durchfallerkrankungen, HIV, Lungenentzündungen, Masern oder Polio ein Vielfaches mehr an Todesopfern fordern.

Bleibt die Frage, wer über die Priorisierungen entscheiden soll – weltweit und in den einzelnen Ländern. Es geht weltweit um fundamentale menschenrechtliche Ansprüche. In Deutschland müssen die Bevorzugungs- und Hintanstellungskriterien – weil grundrechtsrelevant – vom parlamentarischen Souverän legitimiert werden. Was globale Verteilungskriterien angeht, muss jedes einzelne Land mitentscheiden können – selbst wenn es in den Genuss kostengünstiger oder sogar kostenloser Impfstoffe käme. Alles andere wäre die ewige Wiederkehr kolonialer Bevormundung, auch wenn sie sich nunmehr im Gewand uneigennütziger Solidarität zu kleiden mühte.

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