Immer mehr Femizide in der Türkei: Geschlagen, gewürgt, verbrannt
Der grausame Mord an einer jungen Frau in der Türkei löst heftige Proteste und Debatten aus – wieder einmal. Die Gewalt gegen Frauen nimmt stetig zu.
In Istanbul, Izmir, Ankara und vielen weiteren Städten gab es spontane Protestdemonstrationen. Selbst in gesellschaftlichen Konflikten sonst eher zurückhaltende Prominente aus dem Showbusiness, wie der deutsch-türkische Sänger Tarkan, äußerten öffentlich ihre Empörung.
Am Montagabend hatten Suchtrupps die Leiche der seit Tagen vermissten Pınar Gültekin gefunden, wenig später wurde auch ihr mutmaßlicher Mörder festgenommen. Es handelt sich um ihren Ex-Geliebten Cemal Metin Avcı – einen Familienvater, mit dem Pınar Gültekin zuvor eine Affäre beendet hatte und der sie offenbar aus Rache ermordete.
Die Betroffenheit ist auch deshalb so groß, weil der Mord in einem Milieu stattfand, in dem eine solche Tat nicht vermutet wird. Auf jetzt veröffentlichten Fotos von Pınar Gültekin sieht man eine lebensfrohe 27-jährige Studentin aus gutem Haus. Ihr Mörder ist ein smarter Mittdreißiger, erfolgreicher Geschäftsmann und Manager einer Bar in einem Touristenort an der Ägäis.
Mehrere Hundert Frauenmorde pro Jahr
Beide stammen aus Muğla, einer Stadt im liberalen Westen der Türkei, unweit der Touristenhochburgen Bodrum und Marmaris. In den sozialen Medien brachen sich die Wut und Empörung Bahn. „Was ist los mit den Männern in der Türkei“, schrieb eine Frau auf Twitter, „seid ihr so schwach, dass ihre eure Männlichkeit nur durch Morde beweisen könnt?“
Denn trotz aller öffentlichen Debatten, trotz Gesetzen zum Schutz von Frauen nimmt die Anzahl der Femizide in der Türkei Jahr für Jahr zu. Für 2019 hat die Plattform „Wir stoppen die Frauenmorde“ (Kadın Cinayetlerini Durduracağız) 474 derartige Delikte gezählt. Bis auf drei Fälle wurden alle Morde von Ehemännern, Ex-Ehemännern, Lebensgefährten oder anderen Männern aus dem unmittelbaren familiären Umfeld verübt.
Die letzten Zahlen gibt es für März dieses Jahres, wo die Plattform 29 Morde registrierte. In den vergangenen Jahren haben besonders brutale Frauenmorde immer wieder zu großen öffentlichen Debatten geführt, doch in der Praxis ändert sich kaum etwas.
Im Gegenteil: Frauenorganisationen machen die zunehmend islamische, reaktionäre Politik der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan direkt dafür verantwortlich, dass Frauen in der Türkei nach wie vor oder sogar zunehmend wieder als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Selbst der vorsichtige Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hat jetzt die steigende Anzahl von Frauenmorden beklagt und gefordert, bestehende Gesetze zur Gleichstellung von Frauen endlich in die Praxis umzusetzen.
Türkei will aus der Istanbul-Konvention aussteigen
Doch innerhalb der regierenden AKP ist eine genau gegensätzliche Debatte im Gange. Islamistische Ordensführer und ihre Strohmänner in der AKP fordern seit Langem, dass die Türkei aus der 2011 beschlossenen Istanbul-Konvention des Europarats, in der Frauenrechte völkerrechtlich verbindlich festgelegt wurden, wieder austreten soll.
Als erstes Land hatte die Türkei, weil sie die Veranstaltung des Europarats in Istanbul organisiert hatte, 2012 den Vertrag im Parlament ratifiziert. Deutschland tat das erst 2018. Jetzt wollen die Islamisten, dass das Land wieder aussteigt, und Erdoğan stellt sich auf ihre Seite.
Bei einer Parteiversammlung Ende Februar kündigte der Präsident an, man werde die Konvention noch einmal „überprüfen“. Sämtliche Frauenorganisationen laufen mit Unterstützung der Opposition Sturm gegen diesen Rückschritt. Doch die Islamisten geben zunehmend den Ton an, wie auch die Entscheidung zeigt, die Hagia Sophia wieder in eine Moschee umzuwandeln.
Wie auch in anderen Fällen ist Erdoğan mit seiner Politik nicht allein. In Ungarn lehnte das Parlament erst im Mai dieses Jahres eine Ratifizierung der Istanbul-Konvention ab. Auch Polen und Kroatien haben gegen die „Gender-Ideologie“ Vorbehalte angemeldet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg