Buch über Austeritätspolitik: Klassenkampf von oben
In „Die Ordnung des Kapitals“ zeigt die italienische Ökonomin Clara Mattei, wie mit Austeritätspolitik die Hegemonie des Kapitals durchgesetzt wird.
Man musste schon zweimal hinhören, um es zu glauben: Gerade hatte der alte Bundestag eines der größten Investitionspakete der deutschen Geschichte beschlossen, da verkündete Friedrich Merz: „Wir werden sparen müssen.“ Wenig später schob Jens Spahn hinterher: „Die fetten Jahre sind vorbei.“ Worauf beide Politiker die Bevölkerung vorbereiten, ist die Rückkehr einer neuen Ära der Austerität. Egal, welche Krise das Land trifft, es scheint nur eine Lösung zu geben: sparen, sparen, sparen.
Dabei zeigt die Geschichte, dass Sparpolitik nie den versprochenen Effekt hat. Gemeinhin lautet die Logik, man müsse kurzfristig eine schmerzhafte Phase des ökonomischen Abschwungs in Kauf nehmen, um anschließend die Früchte dieser Entbehrungen in Form von größerem Wachstum zu ernten. Allerdings existieren keine überzeugenden Belege dafür, dass diese Theorie stimmt. In „Die Ordnung des Kapitals“ liefert die italienische Ökonomin Clara Mattei eine Erklärung dafür, wieso Politiker*innen dennoch an dieser Methode festhalten.
Bevor sie die Geschichte der Austerität beleuchtet, stellt sie zu Beginn ihres Buchs klar, dass sich diese Politik nicht allein auf Haushaltskürzungen beschränkt. Leitzinserhöhungen der Zentralbanken und der Abbau von Arbeitnehmerrechten, wie sie Deutschland mit der Agenda 2010 erlebt hat, gehören ebenfalls dazu. Genau wie Milliardeninvestitionen in das Militär, wenn diese als Rechtfertigung eines Abbaus des Sozialstaats dienen. „Austerität bedeutet nicht weniger Staat, sondern Staat im Dienst des Kapitals“, brachte sie kürzlich in einem Interview auf den Punkt und verdeutlicht damit die Grundthese ihres Buchs: Austeritätspolitik darf nicht als Instrument zur Sanierung einer maroden Wirtschaft verstanden werden, sondern als politisches Mittel zum Schutz der kapitalistischen Ordnung.
Gemeinhin assoziiert man die Ursprünge der modernen Austerität mit der neoliberalen Ära der Reagan- und Thatcher-Jahre. Mattei geht zurück bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Krieg war eine Zäsur, weil erstmals die vermeintliche Gewissheit beschädigt wurde, der Kapitalismus hätte auf jede Situation die beste Antwort. Der Krieg bewies, dass Regierungen sehr wohl in der Lage waren, dem kapitalistischen Marktsystem eine Absage zu erteilen und mit aktiver Wirtschaftspolitik die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen.
Am Beispiel von Großbritannien und Italien dokumentiert Mattei, wie Arbeiterbewegungen in diesem Bewusstsein zunächst große Erfolge im Kampf für eine neue politische Ordnung feierten, wie die erfolgreiche Besetzung von Fabriken in Norditalien illustriert. Es schien möglich, dass das revolutionäre Aufbegehren der Arbeiter*innen tatsächlich die Dominanz des Kapitals brechen konnte.
„In einer Zeit beispielloser demokratischer Umwälzungen in ganz Europa […] mussten die Wirtschaftsexperten ihre mächtigsten Waffen einsetzen, um die Welt so zu erhalten, wie sie ihrer Meinung nach sein sollte“ – sie erfanden die Austeritätspolitik. Wirtschaftspolitische Maßnahmen wurden durchgesetzt, deren vorgebliches Ziel es war, den Haushalt zu sanieren und die Inflation zu bekämpfen, die gleichzeitig aber einen enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit nach sich zogen. Öffentlich wurden diese Auswirkungen zwar mit Bedauern begleitet, aber zum notwendigen Übel erklärt.
Die größte Stärke von Clara Matteis Analyse liegt in der Art, wie sie hinter diese Statements blickt. Indem sie umfassendes Archivmaterial aus den 1920ern auswertet (Zeitungen, private Korrespondenzen und wenig bekannte Fachaufsätze), legt sie die wahren Motive der Verantwortlichen offen: Steigende Arbeitslosigkeit war nicht bloß ein unerfreulicher Nebeneffekt, sondern die perfekte Möglichkeit, Arbeiter*innen zu disziplinieren und ihre Position zu schwächen.
Deswegen steht in „Die Ordnung des Kapitals“ eine Berufsgruppe im Vordergrund, die ansonsten keinen prominenten Platz in der Geschichte der Zwischenkriegsjahre einnimmt – Ökonomen. Für Großbritannien war es Ralph Hawtrey, Hausökonom des britischen Finanzministeriums, der die wirtschaftswissenschaftlichen Argumente lieferte, um den Einfluss von Arbeiter*innen zu beschneiden. Besonders interessant ist aber die Geschichte Italiens. Mattei zeigt detailliert, welche Verantwortung Ökonomen bei der Machtsicherung des faschistischen Regimes von Benito Mussolini trugen.
Symptomatisch ist dabei die Rolle von vermeintlich liberalen Ökonomen wie Luigi Einaudi, der 1948 zum italienischen Präsidenten gewählt wurde. Mattei dokumentiert, wie solche Technokraten im Namen der Austerität Maßnahmen unterstützten, die den Faschisten nutzten. Dies wirft ein Licht auf einen bisher kaum beachteten Aspekt von Mussolinis Aufstieg, der auf bedrückende Art auch unsere Gegenwart spiegelt.
Im Kern undemokratisch
Die prominente Rolle, die Ökonom*innen beim Schutz der kapitalistischen Ordnung spielen, ist kein Zufall. Ihre Theorien verleihen dem Sozialabbau, wie ihn auch die Bundesregierung vorantreibt, eine vermeintlich unpolitische, wissenschaftliche Aura. Dadurch können Politiker*innen sowohl in liberalen Demokratien als auch in autoritären Staaten ihre Handlungen als zwar „schmerzhaft“, aber alternativlos und rational rechtfertigen. So wird Austerität zum Common Sense geadelt. Mattei legt dar, dass diese Form der öffentlichen Kommunikation notwendig ist, weil der Kern der Austeritätspolitik zutiefst undemokratisch ist.
Woran ihr innovativer Ansatz in Teilen krankt, lässt sich bei vielen politischen Sachbüchern beobachten. Haben die Autor*innen erst mal eine These entdeckt, mit der sie die Welt erklären, wird diese auf so viele Bereiche wie möglich angewendet: Mit einem Hammer in der Hand wird alles zum Nagel. Bei Mattei zeigt sich das in ihrer Diskussion um die Funktion von Zentralbanken. In „Die Ordnung des Kapitals“ entsteht der Eindruck, diese Institutionen seien nur geschaffen worden, um Arbeiterbewegungen zu unterdrücken. Selbstverständlich sind Zentralbanken in der Regel Einrichtungen, die sich einem direkten politischen Einfluss entziehen.
Clara Mattei: „Die Ordnung des Kapitals. Wie Ökonomen die Austerität erfanden und dem Faschismus den Weg bereiteten.“ Aus dem Englischen von Thomas Zimmermann. Brumaire Verlag, Berlin 2025, 596 Seiten, 22 Euro
Dafür gibt es gute Gründe, wie wir gerade in den USA erleben. Wäre der US-amerikanischen Gesellschaft wirklich geholfen, hätte Donald Trump direkte Kontrolle über die Federal Reserve und den Leitzins? Die Frage, welche Rolle Zentralbanken in einer Demokratie spielen sollten und wie man mit ihrem de facto undemokratischen und technokratischen Charakter umgeht, ist hochkomplex. Sie lässt sich nicht so einfach in Matteis Austeritäts-Framework pressen.
Das ändert aber nichts daran, dass „Die Ordnung des Kapitals“ für progressive Kräfte ein Geschenk ist. Clara Mattei belegt eindrücklich, was neoliberale und konservative Politiker*innen wirklich meinen, wenn sie von notwendigen Sparmaßnahmen sprechen. Sie entlarvt, dass nicht das langfristige Wohl der Allgemeinheit im Vordergrund steht, sondern die Sicherung der Vormachtstellung des Kapitals.Der Austeritätspolitik lässt sich daher nicht mit ökonomischen Argumenten begegnen, sondern sie muss als das bezeichnet werden, was sie ist: Klassenkampf von oben.
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