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„Ich habe mir die Anerkennung hart erkämpft“

Gregor Gysi gehört zu den beliebtesten Po­li­ti­ke­r*in­nen Deutschlands. Das war nicht immer so. Ein Gespräch über das Comeback der Linkspartei, seine Rolle in der DDR und warum er bei der Rede als Alterspräsident im Bundestag so matt wirkte

Hätte er sich das Frühstück mal besser selbst gemacht: Gysi im Bundestag

Von Daniel Bax (Gespräch) und Jens Gyarmaty (Fotos)

taz: Herr Gysi, die neuen Linken-Abgeordneten im Bundestag sind sehr jung. Sie haben ihnen gleich zum Start empfohlen, nicht ihr gesamtes Leben dort zu verbringen. Warum?

Gregor Gysi: Wir brauchen junge Leute im Bundestag. Aber ich habe ihnen gesagt: Ihr müsst das Leben auch von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Also nach acht Jahren raus und in die Pflege oder im Ausland arbeiten und dann eventuell wiederkommen. Sonst passieren drei Dinge: Zuerst glaubt ihr, dass die Bundestagsdrucksachen das Leben widerspiegeln. Dann bewegt ihr euch in einem immer engeren politischen Kreis und glaubt ernsthaft, das sei die Realität. Und zuletzt werdet ihr selbst aussehen wie eine Bundestagsdrucksache. Das ist so wie bei Eheleuten, die immer ähnlicher aussehen, wenn sie 60 Jahre verheiratet sind.

taz: Das sagen ausgerechnet Sie? Sie sitzen seit über 30 Jahren im Bundestag. Niemand ist länger dort als Sie.

Gysi: Ich kam erst im Alter von 42 Jahren in den Bundestag, das war ein ganz anderer Lebensabschnitt. Außerdem war ich drei Jahre draußen und habe in der Zeit nur als Anwalt gearbeitet.

taz: Weil Sie am längsten im Bundestag sitzen, durften Sie als Alterspräsident die Eröffnungsrede zur neuen Legislaturperiode halten. Waren Sie nervös?

Gysi: Ich wirkte matt. Und wissen Sie, warum? Ich habe am Morgen vergessen, meine Tabletten zu nehmen. An dem Tag haben mir meine Kinder das Frühstück gemacht. Sonst gehe ich immer in die Küche, mache mir mein Frühstück, sehe sie und nehme meine Tabletten. Diesmal nicht, und dadurch wirkte ich bleich. Das ärgert mich.

taz: Sie haben eine sehr versöhnliche Rede gehalten.

Gysi: Der Grundtenor war Gerechtigkeit. Die Zeit hat geschrieben, ich hätte gesteinmeiert. Das fand ich eine schöne Formulierung.

taz: Sie sind nicht nur Politiker und Anwalt, sondern auch Autor, Moderator. Wie wichtig ist Ihnen die Politik nach all den Jahren überhaupt noch?

Gysi: Sehr wichtig. Ich werde auch wieder mehr machen. Ich werde kulturpolitischer Sprecher meiner Fraktion und gehe in den Ausschuss für Kultur und Medien. Da werde ich mich einmischen, gerade was die Finanzierung der Kultur betrifft. Das ist, wie Bildung und Gesundheit, ein Bereich, in dem man nie kürzen darf. Und ich finde, der Bund sollte für Leuchtturm-Projekte wie die Berliner Philharmoniker oder die documenta oder Weimar voll zuständig werden.

taz: Sie moderieren regelmäßig Gespräche mit Prominenten, häufig aus dem anderen politischen Lager. Wollen Sie auch da versöhnen?

Gysi: Mich interessiert, weshalb andere Menschen so ganz anders geworden sind wie ich. Springer-Chef Mathias Döpfner hat mir zum Beispiel von seinem Vater erzählt, der als Professor in Offenbach gelehrt hat. Den haben die Studenten 1968 an seiner Hochschule mit Farbe beworfen, woraufhin er eine Herzattacke bekam und im Krankenwagen nach Hause gebracht wurde. Das hat er als Kind miterlebt und gedacht, die Farbe sei Blut. Ich habe vermutet, dass daher seine Abneigung gegen die Linken rührt. Nach etwas Nachdenken hat er zugestimmt.

taz: Mit dem ehemaligen CSU-Star Karl-Theodor zu Guttenberg bestreiten Sie sogar einen Podcast. Wenn man sich mit Konservativen zu gut versteht, schwindet da nicht der Nimbus des Oppositionellen?

Gysi: Das kann schon passieren, wenn man nicht aufpasst. Aber wenn ich etwas falsch finde, dann sage ich das und bin sehr leidenschaftlich. Insofern mache ich mir da keine großen Sorgen. Menschen sind eben unterschiedlich und vertreten unterschiedliche Interessen. Deshalb sage ich auch: Ich will keinen Bundestag ohne Union. Es gibt konservative Interessen, die muss jemand vertreten. Ich würde mir wünschen, dass auch die Konservativen begreifen, dass es gut ist, wenn es auch eine Linke im Bundestag gibt. Das zu vermitteln habe ich aber leider noch nicht geschafft.

taz: Die Linke hat bei der Wahl mit 8,8 Prozent erstaunlich gut abgeschnitten. Wie erklären Sie sich das Comeback Ihrer Partei?

Gysi: Nach der Europawahl, bei der wir auf 2,7 Prozent abstürzten, steckten wir in einer existenziellen Krise. Ich habe meinen Mut zusammen genommen und mit Dietmar Bartsch gesagt: Wir brauchen eine neue Führung. Da waren die Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan natürlich sauer, aber das hat die Wende eingeleitet. Wir haben dann die „Mission Silberlocke“ gestartet …

taz: Sie, Bartsch und Bodo Ramelow wollten mit Ihren Direktmandaten den Einzug der Linkspartei in den Bundestag sichern.

Gysi: Wir wussten, daran kommen die Medien nicht vorbei. Und dann meinte Friedrich Merz, er könne seine Partei retten, wenn er mit den Stimmen der AfD, der FDP und des BSW ein Gesetz verabschiedet. Heidi Reichinnek hat ihm mit Leidenschaft klare Kante gezeigt. Die jungen Leute stürmten uns dann die Bude ein.

taz: Sie sagen, Ihre Partei habe den Osten vernachlässigt. Was hat sie falsch gemacht?

Gysi: Nachdem sich meine PDS mit der WASG 2007 zur Linken vereinigt hatte, hörten wir im Osten auf, eine Kümmererpartei zu sein. Diese Themen spielten im Bundestag nicht mehr die gleiche Rolle wie früher. Wir hatten zur Rentenungerechtigkeit im Osten zuvor 17 namentliche Abstimmungen hintereinander beantragt. So etwas hat es danach nicht mehr gegeben, und das war falsch.

taz: Was kann die Linke für den Osten tun?

Gysi: Ines Schwerdtner, unsere Vorsitzende, hat ja dazu aufgerufen, dass wir wieder eine Kümmererpartei werden. Wir bilden jetzt wieder Leute im Rentenrecht und im Mietrecht aus. Das wird ein bisschen dauern. Aber damit können wir im Osten wieder eine höhere Verantwortung tragen.

taz: Sie haben kürzlich ein Buch herausgebracht, einen Gesprächsband mit Peter-Michael Diestel, dem letzten Innenminister der DDR. Ist das Teil Ihrer Strategie, den Osten anzusprechen?

Gysi: Ja, klar, auch. 1990 habe ich Diestel zutiefst abgelehnt. Er war ja in der DSU, der Kleinpartei „Deutsche Soziale Union“, das war so ein rechter Haufen. Aber dann kamen viele Polizisten und Offiziere der Nationalen Volksarmee zu mir und fragten: Was wird denn aus uns? Werden wir alle entlassen?

taz: Sie waren Chef der PDS, die damals das Erbe der SED, der Staatspartei der DDR, antrat.

Gysi: Als solcher war ich nicht zuständig, aber ich habe mich überwunden und den Innenminister angerufen. Ich bekam einen Termin, er war ausgesprochen freundlich und sagte: Na klar, ich kümmere mich um die. Dadurch habe ich ihn mit anderen Augen gesehen. Er hätte ja auch so ein Hasser sein können. Stattdessen hat er mir einen Cognac ausgegeben.

taz: Diestel galt als stasifreundlich. Er soll auch Stasi-Akten vernichtet haben.

Gysi: Der hat überhaupt keine Staatssicherheit-Akten vernichtet. Da ist ja auch alles gefunden worden, was wichtig war. Wenn, dann haben Staatssicherheitsleute selbst einiges vernichtet.

taz: Je länger die Wiedervereinigung zurück liegt, desto mehr entdecken manche Ostdeutsche, was sie von Westdeutschen trennt. Woran liegt das?

Gysi: Der Osten ist verletzt. In meiner Rede als Alterspräsident habe ich versucht darzustellen, warum das so ist. Das überträgt sich von einer Generation auf die nächste und die übernächste. Da haben Großeltern und Eltern einen gewissen Einfluss. Es gab in der DDR staatliches Unrecht, das muss aufgearbeitet werden. Es gab keine echte Demokratie und nur teilweise Rechtsstaatlichkeit, die Freiheit war eingeschränkt. Das ist alles wahr und richtig. Aber der Westen hat die DDR auf Staatssicherheit, Mauertote und SED reduziert, und das demütigt auch.

taz: Was war gut an der DDR?

Gysi: Zum Beispiel waren über 95 Prozent der Frauen in der DDR voll berufstätig. Auch als Frau mit drei Kindern konntest du es dir leisten, zu arbeiten, weil es hervorragende Kindereinrichtungen gab. Auch die Wiederverwendung von Metall, Kleidung, Papier und Glas war gut organisiert. Während die Bundesrepublik eine Wegwerfgesellschaft war, waren wir eine Behalte-Gesellschaft. Nicht aus ökologischen Gründen, sondern aus ökonomischen. Trotzdem! Wenn man vier oder fünf solcher Sachen übernommen hätte, dann hätten die Ostdeutschen gesagt: Wir hatten zwar das falsche System, aber diese vier oder fünf Dinge sind so gut, dass sie jetzt in ganz Deutschland gelten. Und der Westen hätte gesagt: Mensch, dank des Ostens ist das bei uns besser geworden. So ein Erlebnis hatten wir nicht. Das war der Grundfehler. Und leider ist der nie korrigiert worden, und keine Regierung hat das eingeräumt.

Gregor Gysi

Der Politiker

Gysi, 1948 in Ost-Berlin geboren, machte zunächst eine Ausbildung als Facharbeiter für Rinderzucht und studierte dann Jura. In der DDR arbeitete er als Anwalt. Mit der Wende wurde er im Dezember 1989 Parteichef erst der SED, dann deren Nachfolgepartei PDS. 2002 war er für einige Monate Wirtschaftssenator in Berlin. Mit Oskar Lafontaine gründete er 2005 die Linkspartei, deren Fraktionschef im Bundestag er bis 2015 war.

Der Medienprofi

Gysi ist Bestseller-Autor und häufiger Talkshow-Gast. Seit vielen Jahren moderiert er selbst Gesprächsreihen mit Gästen an Berliner Theatern und anderen Bühnen. Auch auf TikTok wurde er populär, ein „DJ Gysi“ unterlegte seine Reden mit Techno-Beats.

taz: Ehemalige Bürgerrechtler werfen Ihnen vor, Sie hätten versucht, die DDR-Vergangenheit unter den Teppich zu kehren und das SED-Vermögen zu retten. Sie wollten viele Millionen Mark auf Konten ins Ausland verschieben.

Gysi: Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat das aufgearbeitet. Natürlich habe ich versucht, das Vermögen der Partei zu retten. Aber die Treuhandanstalt und die unabhängige Kommission haben es uns nicht gelassen. Und dass ich irgendwo noch etwas versteckt oder ins Ausland verschoben hätte, das ist völliger Quark. Im Kern ist uns alles genommen worden, bis auf das Alteigentum der KPD.

taz: Dazu gehört das Karl-Liebknecht-Haus in Berlin, die Parteizentrale der Linken.

Gysi: Es gab ja die „Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR“. Deren Vorsitzender war Hans-Jürgen Papier, später Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er ließ durch einen Rechtsanwalt ein Gutachten anfertigen, um zu prüfen, ob man uns auch das Karl-Liebknecht-Haus wegnehmen kann. Damit sind beide dann zu Helmut Kohl gefahren. Und Kohl hat gesagt: Nein, das rühren wir nicht an.

taz: Die Linke verdankt das Karl-Liebknecht-Haus Helmut Kohl?

Gysi: Ja. Ich weiß nicht, ob ein Gericht das korrigiert hätte, wenn Kohl das anders entschieden hätte. Aber so war es.

taz: Warum hat Kohl gezögert?

Gysi: Weil er Historiker war, kannte er die Bilder, als die SA das Karl-Liebknecht-Haus übernahm. Da kamen alle KPD-Leute mit den Händen hinter dem Kopf raus. Er wusste, ich würde das genau so inszenieren, wenn die Polizei käme, und das hätte von Paris bis New York für Aufsehen gesorgt. Deshalb hat er gesagt: Das alte KPD-Eigentum bleibt.

taz: Sie entstammten einer jüdisch geprägten Familie von Widerstandskämpfern und gehörten zur Minderheit, die in der DDR den Ton angab. Wie war das für Sie?

Gysi: In meine Klasse ging noch ein Junge, der auch zwei antifaschistische Eltern hatte. Alle anderen Väter waren bei der Wehrmacht und in Kriegsgefangenschaft gewesen. Ich habe meine Eltern mal gefragt, warum die Eltern von uns beiden mehr zu sagen hätten als die der anderen, wo die doch die Mehrheit waren. Auf diese Frage bekam ich keine befriedigende Antwort.

taz: Heute kennen Sie die Antwort.

Gysi: Ja. Aber wissen Sie, was ich 1949 gemacht hätte? Ich hätte gesagt: Wir bilden jetzt eine Regierung, die nur aus Antifaschisten besteht, aber in fünf Jahren könnt ihr wählen, wen ihr wollt. Gut, die Sowjets hätten das nicht durchgehen lassen. Aber wenn du so ehrlich bist, hast du eine ganz andere Akzeptanz. Stattdessen hat man so getan, als ob die Mehrheit antifaschistisch sei und man sie vertreten würde. Das war ein Selbstbetrug.

„Anfangs schlug mir auch im Osten viel Ablehnung entgegen. Wenn ich 1991 in eine Gaststätte kam, wusste ich: Ich werde hier nicht bedient“

taz: Ihr Vater war in der DDR Kulturminister, Ihre Mutter eine hohe Kulturfunktionärin. Wie privilegiert sind Sie aufgewachsen?

Gysi: Reisen durfte ich genauso wenig wie alle anderen, zumindest bis 1988 – da war ich 40. Aber meine beiden Eltern waren Verleger, wir hatten eine Vielzahl von Büchern zu Hause. Mein katholischer Freund, der gegenüber wohnte, hatte eine alleinerziehende Mutter und zwei Geschwister. Die hatte exakt zwei Bücher: ein Kochbuch und die Bibel, das war’s. Er ist trotzdem Oberarzt geworden, möchte ich betonen. Das zweite Privileg bestand in dem Besuch, den wir bekamen. Auch nach dem Mauerbau hatten wir Gäste aus den USA, aus Südafrika und vor allem aus Frankreich. Das gab es sonst in der DDR gar nicht, und so lernte ich eine ganz andere Kulturbreite kennen. Ich weiß noch, wie uns ein reicher Franzose besuchte, der unterstützte die Kommunistische Partei Frankreichs. Den habe ich als Kind gefragt: Was machst du, wenn die sozialistische Revolution in Frankreich gesiegt hat? Oh, dann gehe ich sofort in die Schweiz und kämpfe weiter, sagte er. Mit dieser Art von Ironie wuchs ich auf. Mein Vater konnte auch sehr selbstironisch sein. Das war tatsächlich ein Privileg.

taz: Welche Bedeutung hat Ihre jüdische Herkunft für Sie?

Gysi: Nach den Nürnberger Gesetzen war mein Vater Halbjude und meine Mutter Vierteljüdin. Danach bin ich 37,5 Prozent Jude. Nach den jüdisch-orthodoxen Gesetzen bist du nur Jude, wenn du eine jüdische Mutter hast. Danach wäre ich keiner, weil ich ja keine jüdische Mutter hatte.

taz: Hat diese Herkunft für Sie je eine Rolle gespielt?

Gysi: Ja, zum Beispiel als Israels damaliger Präsident Shimon Peres 2008, zum 60. Jahrestag der Staatsgründung, Juden aus ausländischen Parlamenten einladen wollte, schrieb ihm der israelische Botschafter aus Deutschland: Es gibt im Bundestag keine einzige Jüdin und keinen einzigen Juden. Da fragte der: Gibt es denn wenigstens welche, die auch jüdische Vorfahren hatten? Ja, zwei. Das waren Jerzy Montag von den Grünen und ich. Wir sind dann ersatzweise eingeladen worden, weil der Bundestag nichts anderes zu bieten hatte. Aber natürlich spielte das Thema für mich persönlich immer wieder eine Rolle.

taz: Inwiefern?

Gysi: Durch meine Großmutter, die in Paris lebte. Ihre Mutter und ihr Bruder sind in Auschwitz ermordet worden. Sie hat nur überlebt, weil sie in den nicht von den Nazis besetzten Teil Frankreichs flüchten konnte.

taz: Haben Sie in der DDR Antisemitismus erlebt?

Gregor Gysi, hier in seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus, sitzt seit über 30 Jahren im Bundestag und ist damit Alterspräsident des Parlaments

Gysi: Ich habe in der DDR einen Ersatz erlebt, das war die Intellektuellenfeindlichkeit. Es fiel dem Justizministerium schwer, so jemanden wie mich und meinen Humor zu ertragen. Der Funktionär war anders gestrickt in der DDR. Aber ich bin vorsichtig damit zu sagen, das war antisemitisch. Selbst wenn ich keine jüdischen Vorfahren gehabt hätte, hätten sie das Intellektuelle an mir überhaupt nicht gemocht.

taz: Keine andere Partei in Deutschland hatte einen Parteichef mit jüdischen Vorfahren. Keiner anderen Partei wurde so oft Antisemitismus vorgeworfen wie Ihrer. Zurecht?

Gysi: Ich fand den Vorwurf meistens falsch. Aber nicht immer. Als jetzt einer gesagt hat, die Hamas ist eine Befreiungs­organisation, habe ich gesagt, er muss sofort ausgeschlossen werden. Da ist eine Grenze überschritten. Das haben sie auch gemacht. Da war ich ehrlich gesagt ein bisschen beruhigt, weil das ist indiskutabel.

taz: Ein Intellektueller jüdischer Herkunft, der zur DDR-Nomenklatura gehörte: Ist es nicht erstaunlich, dass Sie mit dieser Biographie nach der Wende zu einer Stimme des Ostens wurden?

Gysi: Das habe ich mir aber auch hart erkämpft. Anfangs schlug mir auch im Osten viel Ablehnung entgegen. Wenn ich 1991 in eine Gaststätte kam, wusste ich: Ich werde hier nicht bedient. Nach und nach änderte sich das – erst im Osten, dann im Westen und zuletzt sogar in Bayern. Heute stoße ich immer mal wieder auf Ablehnung, wenn ich irgendwo hinkomme. Aber nicht auf so einen Hass wie in den 90er Jahren.

taz: Inzwischen sind Sie laut ZDF-Politbarometer der zweitbeliebteste Politiker Deutschlands.

Gregor Gysi: Das ist schon erstaunlich. Ich war ja lange überhaupt nicht mehr auf dieser Liste. Vor den Wahlen bin ich wieder darauf geraten, und gleich auf Platz zwei. Das hat mich sehr angenehm überrascht. Das heißt: Mein Kampf um Akzeptanz hat gefruchtet. Und für meine letzte Legislaturperiode ist das ja kein schlechter Abschluss.

taz: Wenn Sie auf Ihre politische Laufbahn zurückblicken: Was würden Sie anders machen?

Gysi: Ich glaube, wenn heute der Dezember 1989 wäre, dann würde ich nicht wieder Ja dazu sagen, die Leitung der SED-PDS zu übernehmen. Das war schon sehr anstrengend. Ich würde sagen: Nee, ich bleibe lieber Anwalt und verteidige euch alle.

Daniel Bax, 54, ist Themenchef im Regieressort der taz. An Gysi schätzt er das Berlinerische. In West-Berlin, wo Bax aufgewachsen ist, galt der Berliner Jargon als proletarisch, in der Mittelschicht war er verpönt.

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