IN DER TÜRKEI HABEN HUNGERSTREIKS ZURZEIT KEINE AUSSICHT AUF ERFOLG: Ein sinnloses Opfer
Von der Wirtschaftskrise schockierte Massen gehen auf die Straße. Geschäftsleute, gewöhnlich die Stützen der Gesellschaft, prügeln sich mit der Polizei. Das Ansehen der politischen Klasse hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Die Regierung steht unmittelbar vor dem Sturz. Die Situation in der Türkei ist sehr bewegt – aber sie ist nicht revolutionär. Und was tut die sich selbst revolutionär nennende Linke? Sie ignoriert die neue Situation und macht einfach weiter wie bisher: mit Hungerstreiks in den Gefängnissen. Derartige Aktionen haben nicht nur nichts mit der Lage im Lande zu tun. Es ist schlimmer: Der Aufstand der Massen führt im Gegenteil dazu, dass verhungerte Gefangene kaum zur Kenntnis genommen werden.
Seit Herbst letzten Jahres wehren sich Gefangene aus verschiedenen linksradikalen Gruppen gegen ihre Verlegung in neue Hochsicherheitsknäste. Im Dezember stürmten Polizei und Armee 20 Gefängnisse, töteten dabei mehr als 20 Gefangene und sperrten die überlebenden Häftlinge in neue Trakte. Doch der Hungerstreik, der Ende vergangenen Jahres noch ein großes Thema war, ist für die türkischen Medien fast vergessen. Was angesichts der Tatsache, dass sich die wirtschaftliche und politische Krise im Land mehr und mehr zuspitzt, verständlich ist.
Millionen Menschen haben jetzt Angst um ihren Job, ihr Einkommen, ja um ihre wirtschaftliche Existenz. Für sie ist der Hungerstreik ein Ereignis in einem anderen, fernen Land. Auch der türkische Staat kümmert sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr um das Schicksal der Hungerstreikenden. Man versucht gar nicht mehr, sie zum Aufgeben zu bewegen, geschweige denn auf ihre Forderungen zu reagieren – sondern lässt sie einfach verrecken. Selbst wenn der zuständige Justizminister etwas tun wollte, die Regierung ist nicht mehr handlungsfähig. Es wird Zeit, dass auch die Revolutionäre Volkspartei die Situation des Volks zur Kenntnis nimmt und ihre Mitglieder auffordert, den Hungerstreik mindestens zu unterbrechen. Denn weiterzuhungern ist im Moment ein sinnloses Opfer. JÜRGEN GOTTSCHLICH
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