Hymnen-Singen bei der WM: Der Ton ist keine Bagatelle
Hinter dem Verständnis für Özil und Khediras Stummbleiben steht ein völkischer Gedanke: Die sind gar keine echten Deutschen.
BERLIN taz | Frankreich gegen Nigeria, kurz vor 18 Uhr in Brasilien vorigen Montag. Das ZDF überträgt. Wolf-Dieter Poschmann kommentiert. Die Spieler beider Mannschaften kommen aus der Stadionkulisse, stellen sich auf für die Nationalhymnen. Wie immer nehmen die Kameras die Teams sachte auf; als die Équipe der Franzosen gezeigt wird und schließlich Karim Benzema ins Bild kommt, äußert sich der Kommentator weniger irritiert als verständig. Denn der Torschützenkönig der Franzosen singt die Nationalhymne nicht mit.
Poschmann erwähnt dies und sagt in etwa: Man müsse das verstehen, seiner Großeltern wegen. Es könnten auch die Eltern gewesen sein, die Poschmann erwähnt haben wollte - aber er erklärt weder, welche besondere Bewandnis es hat mit den Eltern und deren Eltern. Wir sehen nur: Benzema, ein Franzose, schweigt zur "Marseillaise".
Nun, man muss nicht naiv tun: Wer WM guckt, weiß, erstens, französische Männer kommen in der Regel aus Einwandererfamilien, und, zweitens, sie sind so viele von fußballerischer Exzellenz, dass die algerische Nationalmannschaft als B-Variante der französischen gelten kann. Sehr viele französische Fußballer haben algerische Familiengeschichte.
Benzema, der so schmeichlerisch, sanft, ja, unsalafistisch spielende Mann, hat in Interviews darauf hingewiesen, dass er Franzose sei, aber aus historischen Gründen bei der Marseillaise nicht den republikanischen Impuls heraushört (Aufstand gegen die Throne und Herrschenden im eigenen Land, nicht gegen andere Länder).
Erinnerung an die Vorfahren
Er hört vielmehr das, was im Namen der Hymne gegen seine Vorfahren in Algerien angerichtet wurde. Er, der sein Team durch seine Tore beinah im Alleingang ins Viertelfinale zauberte, hört bei: "Zu den Waffen, Bürger! Formt Eure Schlachtreihen, marschieren wir, marschieren wir! Bin unreines Blut unserer Äcker Furchen tränkt" die französischen Kolonisatoren in Algerien.
Das Problem besteht bei einer solchen Sichtweise in zweierlei: Benzema ist nun Franzose und könnte, ja müsste das republikanische Erbe in der tatsächlich aufrührerischen Hymne sehen. Ist es nicht irreal, in einer französischen Auswahl so zu tun, als gehörte man noch immer zu Algerischem? Ja, ist dieser Blick auf sich selbst und sein Dasein als Citoyen nicht selbstausgrenzend? Zweitens jedoch, was den deutschen Diskurs anbetrifft, den Poschmann so irgendwie präzise, aber doch ungenau zum Sprechen brachte: Der singt nicht mit, weil er eigentlich kein Franzose ist.
So kommt unter der Hand und trotzdem deutlich eine Ethnisierung nicht nur des Fußballs zum Vorschein: Einer wie Benzema ist am Ende nur ein algerischer Support für die Équipe Tricolore, eine Art Söldner, der nicht zum republikanischen Gemeinwesen zu zählen ist, weil er weiterhin, nun ja, einer von den Schwarzfüßen südlich des Mittelmeers ist. Kein echter Franzose, ein Hilfsmittel zwar zum sportlichen Weiterkommen, aber nicht von echter französischer Gesittung, die einen Citoyen, einen Bürger mit allen Rechten und Pflichten ziemt.
In Deutschland schweigt man mittlerweile auch zu dem Umstand, dass Özil und Khedira "Einigkeit und Recht und Freiheit" nicht mitsingen, zumal andere, vom Namen her nicht klassisch inländisch klingende Spieler auch nicht textsicher sind - und lieber die Lippen ungeöffnet lassen. Das Problem bleibt bestehen, und das zumindest Teams als Ländermischungen performen: Weshalb wünscht man nicht von Spielern mit ersichtlichem Migrationshintergrund, die Hymne ihres Landes zu intonieren?
Romantisierende Nörgeleien
In der Bagatellisierung des Nichtmitsingens, wie Poschmann es beim franzöischen Spieler Karim Benzema tat, liegt ein gedanklich völkisches Moment: Özil und Khedira and you name it sind ja gar keine echten Deutschen und können deshalb stumm bleiben.
Man mag sich, aus dem Blickwinkel linker Weltanschauung anmerken: Nationalhymnen sind doch von gestern, das Fabulieren von Nationalistischem muss dringend abgelehnt werden. In einer idealen Welt: gewiss. In der wirklichen Welt sind diese Hinweise als antipolitische, ja, romantisierende Nörgeleien zurückzuweisen.
Wer möchte, dass die real-verfasste Bundesrepublik Deutschland als Land der Einwanderer anerkannt und gewertschätzt wird, muss auch wollen, dass Spieler, die Einwandererkinder sind, nicht ethnisiert und kulturalisiert werden. Eine DFB-Auswahl, die so verstanden würde, käme dem Sinnen und Wollen der Völkischen im Lande verdächtig war. Man muss annehmen: Das wollen Linke auf keinen Fall.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich