Hunde in der Verhaltensbiologie: Kein Hund, wer Böses dabei denkt
45.000 Jahre Domestizierung haben dazu geführt, dass Hunde mehr von uns verstehen und einfühlsamer sind, als ihnen zugeschrieben wird.

Vor etwa 45.000 Jahren begann die bemerkenswerte Partnerschaft zwischen Hund und Mensch – aus einstigen Rivalen auf der Jagd wurden unzertrennliche Gefährten. Besonders furchtlose Wölfe wagten sich an die Lagerfeuer der Menschen, angelockt von Nahrung und einem sicheren Schlafplatz. Die Menschen erkannten schnell die Vorteile dieser neuen Begleiter: Sie waren wertvolle Helfer bei der Jagd, erschnüffelten Beutetiere und halfen beim Treiben. Nachts schlugen sie lautstark Alarm, wenn sich Bären näherten.
Der Rest ist Geschichte: Menschen zogen Wölfe per Hand auf, brachten ihnen vermutlich erste Kunststücke bei. Durch gezielte Zucht über viele Generationen entwickelten sich aus den ersten zahmen Wölfen verschiedene Hunderassen mit spezifischen Eigenschaften, die den Bedürfnissen der Menschen entsprachen, etwa als Jagd-, Hüte- oder Begleittiere. Der Fachbegriff dafür lautet Domestizierung. Die Hunde wurden nicht nur zahmer, auch ihr Aussehen veränderte sich. Ihre Schnauzen wurden kürzer, die Zähne kleiner und stumpfer. Neue Fellfarben und niedliche Schlappohren entstanden.
Doch trotz dieser Veränderungen schlummern auf unseren Sofas immer noch Spitzenprädatoren, sagt Juliane Kaminski, Verhaltensbiologin an der University of Portsmouth in England. „Genetisch betrachtet sind unsere Hunde immer noch zu 95 Prozent Wölfe. Sie haben sich aber perfekt an uns Menschen angepasst, vor allem weil sie uns sehr gut verstehen.“
Dieses Verständnis wird seit einigen Jahren intensiv beforscht, inzwischen schreibt die Kognitionsforschung auch Tieren eine komplexe Weltsicht und Kommunikationsfähigkeit zu. Die Erkenntnisse über Hunde sind besonders herzerwärmend: So war Kaminski an einer Studie beteiligt, die den „Hundeblick“ analysierte – jenen Gesichtsausdruck, der uns dazu bringt, noch mehr Leckerlis herauszurücken oder im Bett Platz zu machen.
Hunde können die Mimik von Menschen deuten
Für diesen Blick entwickelten Hunde spezielle Muskeln in den Augenbrauen. Interessanterweise nutzen sie diese nur in der Kommunikation mit uns Menschen, selten im Kontakt mit Artgenossen. Wölfe hingegen haben keine beweglichen Augenbrauen. Niedlich zu schauen, um an Futter zu kommen, ist für sie schlicht nicht nötig. „Einen süßen Blick zu beherrschen, stellte sich als evolutionärer Vorteil heraus. Die Hunde behielten ihn“, erklärt Kaminski.
Doch Hunde können uns nicht nur um den Finger wickeln, sie verstehen auch, wie wir uns fühlen. Eine Studie der Universität Budapest fand heraus, dass Hunde menschliche Emotionen wie Schmerz erkennen können. Die Forschenden baten Hunde- und Minischweinbesitzer weltweit, sich mit ihren Haustieren in einem Raum zu filmen, während sie ihnen einen weinenden Menschen und ein fröhliches Summen vorspielten. Die Reaktion: Hörten die Hunde das Weinen, zeigten sie sich gestresst, begannen zu winseln und zu gähnen, suchten die Nähe zu ihren Besitzern.
Auf das Summen reagierten sie kaum. Die Schweine hingegen blieben vom Weinen unbeeindruckt, empfanden das Summen jedoch als fremd und waren dadurch gestresst. Eine mögliche Erklärung: Schweine sind zwar auch sehr soziale Tiere, aber ihre Domestizierungsgeschichte mit uns Menschen ist nicht so lang und intensiv wie die der Hunde.
Dass Hunde auf menschlichen Schmerz empathisch reagieren, könnte das Ergebnis einer über viele Generationen andauernden Selektion besonders empathischer und kooperativer Tiere sein. Die Ergebnisse stützen die Theorie, dass Hunde durch ihre lange Domestizierung eine außergewöhnliche Fähigkeit zur emotionalen Wahrnehmung entwickelt haben. In einer weiteren Studie wurde gezeigt, dass Hunde auch die Mimik von Menschen deuten können. Dafür wurden Hunde trainiert, zwischen fröhlicher und aggressiver Mimik zu unterscheiden.

Die Alphatheorie lebt als Mythos weiter
Das klappte auch mit verschiedenen Gesichtsteilen und fremden Gesichtern. „Hunde leben schon lange an unserer Seite und hatten dabei genug Gelegenheit, unsere Gesichtsausdrücke zu beobachten. Außerdem könnte die Fähigkeit, unsere Mimik zu deuten, ein Zuchtkriterium für manche Rassen gewesen sein“, erklärt Kaminski.
Hunde sind nicht nur gute Beobachter, sondern auch sehr kooperativ, was ihre Erforschung besonders dankbar macht. Für die Verhaltensstudien gibt es einen Pool an freiwilligen Hundebesitzern, die ihre Tiere gerne für die Forschung zur Verfügung stellen. Und die Tiere haben daran oft großen Spaß. „Wir arbeiten ohne großen Druck. Oft geben wir den Besitzern Hausaufgaben mit, wie zum Beispiel Bilder von lächelnden Menschen zu erkennen. Nach etwas Training kommen sie dann zu uns ins Labor“, erklärt Kaminski. Besonders clever müssen die Hunde dafür nicht sein. Sie sollten sich nur in fremden Umgebungen nicht zu unsicher fühlen und auch mit anderen Menschen oder Artgenossen klarkommen.
Mit viel Spiel und Leckerlis finden dann die Experimente statt. In manchen Instituten wurden Hunde sogar daran gewöhnt, still in einem fMRT-Scanner zu liegen, um ihre Gehirnströme zu messen. In einem CT-Experiment der Universität Budapest bekamen sie über Kopfhörer Passagen aus Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ vorgespielt – auf Spanisch und auf Ungarisch. Das Ergebnis: In beiden Fällen waren dieselben Hirnregionen aktiv, allerdings mit unterschiedlichen Mustern – je nachdem, ob die Hunde die Geschichte in der ihnen vertrauten oder der fremden Sprache hörten. Die Vierbeiner erkennen offenbar den Sprachrhythmus und wissen, wie wir klingen.
All diese Studien belegen eins sehr eindrücklich: Hunde wollen uns verstehen und mit uns Menschen kooperieren. Auch das ist ein Produkt der Domestizierung. In Verhaltensexperimenten wurden Wölfe und Hunde vor einen Käfig gesetzt, in dem leckeres Fleisch lag. Die Wölfe versuchten mit aller Kraft, den Käfig aufzubrechen. Hunde hingegen fragten mit Winseln und Anstupsen ihre Besitzer um Hilfe.
Hunde können schnell gute Begleiter werden
Dieses Bedürfnis macht das Zusammenleben so angenehm, wir können Hunden sehr schnell beibringen, zu guten Begleitern zu werden. „Hunde sind in der Regel sehr kooperationsbereit und konzentriert auf unsere Anweisungen“, erklärt Marie Nitzschner, Verhaltensbiologin und Hundetrainerin. „Bei Wölfen funktioniert das eben nicht so einfach, selbst wenn sie in Gefangenschaft aufgewachsen und an Menschen gewöhnt sind. Sie sind längst nicht so empfänglich für unsere Anweisungen und treffen ihre Entscheidungen lieber selbst.“
Für das Hundetraining sind die neuen Erkenntnisse aus der Verhaltensbiologie und der Kognitionsforschung entsprechend wertvoll. Statt auf Unterwerfung zu setzen, arbeitet man heute auf deutschen Hundeplätzen immer häufiger an der Bindung und Beziehung, erklärt sie. Gleichzeitig halten sich immer noch viele Mythen in Sachen Hundeerziehung. Eine davon ist die Alphatheorie. Sie basiert auf einer Fehlinterpretation von Wolfsverhalten in der Gefangenschaft. Ein Wolfsrudel würde von einem Alphatier angeführt, allerdings stimmt das kaum. Angeführt wird ein Rudel von gleichberechtigten Elterntieren, die „Alphatiere“ sind also Vater und Mutter, wie in einer menschlichen Familie.
Kämpfe um diese Hierarchie gibt es bei frei lebenden Wölfen nicht. Wölfe, genau wie Hunde, vermeiden eher soziale Kämpfe und Konflikte. Trotzdem hält sich bis heute auf manchen Hundeplätzen der Glaube, dass Hunde andauernd versuchen, ihren Menschen zu dominieren. Deshalb müsse der Mensch auch mal hart durchgreifen und dem Hund „zeigen, wer das Alphatier ist“.
Doch genau dem widersprechen die neuen Studien: Die Interaktion zwischen Menschen und Hunden sollte eher auf Vertrauen, positiver Verstärkung und einer gesunden Beziehung basieren. „Hunde benötigen Verlässlichkeit und liebevolle Konsequenz, an der sie sich orientieren können“, erklärt Nitzschner. Natürlich müsse es dabei Regeln und einen sicheren Rahmen geben, in dem sich der Hund weder selbst noch andere Lebewesen schädigt oder belästigt. Zum Beispiel sollten Hunde lernen, dass sie nicht einfach über die Straße laufen, Menschen anspringen oder Kindern nachjagen.
Am besten funktioniert das mit Aufmerksamkeit, Spielzeug oder Futter. Immerhin streben Hunde wie Menschen nach schönen und positiven Gefühlen. „Je mehr wir über die Wahrnehmung und Körpersprache unserer Hunde herausfinden, desto besser können wir als Halter lernen, unsere Hunde zu verstehen und ihre feine Beobachtungsgabe für uns zu nutzen“, sagt sie.
Auf die Spitzenprädatoren auf unserem Sofa angesprochen, räumt Nitzschner gleich noch mit einem weiteren Klischee auf: Unsere Hunde gehen so gerne mit auf das Sofa oder ins Bett, weil es bequem ist und sie unsere Nähe und Aufmerksamkeit genießen. Mit Dominanz hat das nichts zu tun.
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