piwik no script img

Human Rights Watch zum Mord an Sadulajewa"Wir dachten, es gäbe eine Pause"

Die internationale Staatengemeinschaft verhält sich zu passiv, sagt Tanja Lokschina von Human Rights Watch. Diese Ignoranz habe auch dem Mord an Sarema Sadulajewa Vorschub geleistet.

Natascha Estemirowa wird in Grosny noch betrauert, da wird schon die nächste Menschenrechtsaktivistin umgebracht. Bild: dpa

taz: Frau Lokschina, wie war Ihre erste Reaktion, als Sie von dem Mord an der tschetschenischen Menschenrechtsaktivistin Sarema Sadulajewa und ihrem Mann erfahren haben?

Tanja Lokschina: Das klingt jetzt vielleicht sehr zynisch, aber nach dem Mord an Natascha Estemirowa haben wir alle gedacht, dass es eine Pause geben würde. Was jetzt passiert ist, hat alle in einen Schockzustand versetzt.

Bild: human rights watch
Im Interview: 

Tanja Lokchina, 36 Jahre alt, ist Journalistin und arbeitet im Büro der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Moskau. Ihr Spezialgebiet ist der Kaukasus.

Sehen Sie eine Verbindung zwischen den Morden der letzten Zeit?

Alle haben im Menschenrechtsbereich gearbeitet, sie haben hunderten Menschen geholfen und waren dementsprechend bekannt. Das wird in Tschetschenien von offizieller Seite nicht akzeptiert.

Anders als Natascha Estemirowa hat Sarema Sadulajewa mit Kindern im humanitären Bereich gearbeitet. Warum wurde sie Opfer eines Anschlags und wer steht Ihrer Meinung nach dahinter?

Diese Fragen werden wir der russischen Generalstaatsanwaltschaft stellen: Wer steht dahinter und warum wurden die beiden umgebracht. Darauf verlangen wir Antworten. Klar ist eins: Das Risiko für Menschenrechtler, in Tschetschenien zu arbeiten, ist untragbar geworden. Die Situation dort ist vollkommen außer Kontrolle geraten. Solange die Morde an Estemirowa und Sadulajewa und ihrem Mann nicht aufgeklärt und die Täter nicht bestraft sind, können Menschenrechtler in der Region nicht normal arbeiten.

Vor wenigen Tagen hat Alexander Tscherkassow, Kaukasusexperte der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, angekündigt, das Büro in Tschetschenien vorerst nicht wieder zu öffnen. Ist diese Entscheidung richtig?

Wenn die Organisation nicht in der Lage ist, die Sicherheit ihrer Mitarbeiter zu garantieren, dann hat die Leitung keine andere Wahl. Für uns, die wir über diese Region arbeiten, ist das natürlich ein herber Schlag. Memorial war unsere wichtigste Informationsquelle. Doch nach dem Mord an Estemirowa konnte die Leitung von Memorial gar nicht anders entscheiden.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang das Verhalten des Westens?

Die Morde der jüngsten Zeit wurden auch durch die totale Passivität der internationalen Staatengemeinschaft möglich. Vor allen diesen Verbrechen, sowohl in Tschetschenien selbst als auch in der Region, haben die Partner Russlands immer die Augen verschlossen. Besonders diese Ignoranz hat mit dazu beigetragen, dass sich die Situation so negativ entwickelt hat.

Wie soll der Westen auftreten?

Die Situation in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus muss klar und deutlich angesprochen, die Verbrechen müssen beim Namen genannt werden. Und es sollten ganz klare Forderungen formuliert werden: Zuallererst muss es reale, konkrete und effektive Ermittlungen geben, außerdem dürfen die Mörder nicht straffrei ausgehen.

INTERVIEW: BARBARA OERTEL

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • D
    Denis

    Politkowskaja, Markelow und andere wurden in Moskau, nicht im Nordkaukasus ermordet, dort sind die Ermittlungen auch keinen Schritt weiter als im Fall Estemirowa in Tschetschenien. Es kann dann doch wohl kaum ein regionales Problem sein.

  • PB
    Peter Bitterli

    to Denis:

    Immer alles der russischen Regierung, dem "KGB" (SFB) und "Putin" in die Schuhe zu schieben - das, genau das halte ich allerdings für eine Verschwörungstheorie per definitionem.

    Dass die russische Justiz (wie insesamt russische Behörden) schlampt, ist eine andere, unbestrittene Sache. Vielleicht liegen die Dinge halt doch etwa so komplex wie bei Kennedy, Palme oder Barschel. Und schliesslich kann man doch den Nordkaukasus nicht mit Russland gleichsetzen!

  • D
    Denis

    Die Verschwörungstheorie wird besonders von Kadyrow verbreitet, es fragt sich nur, warum dann nie eine Aufklärung der ganzen Morde stattfindet.Hätten die Verschwörungstheoretiker Recht, müssten die Ermittlungen durch die Behörden mit Hochdruck betrieben werden. Im Übrigen: Einen Mord einen Mord zu nennen ist kein Mobbing.

  • PB
    Peter Bitterli

    Oder aber die Morde gschehen, WEIL am Freitag russisch-deutsche Kontakte auf höchster Ebene stattfinden. Es ist doch lachhaft, die russische Regierung verantwortlich zu machen. Sie ist ja publizistisch stets die leidtragende Seite. Russland ist zu helfen, Russland ist nicht zu mobben. Ein Anfang wäre differenzierte Berichtertattung.

  • D
    Denis

    Frau Merkel hat am Freitag eine gute Gelegenheit dem Schweigen des Westens ein Ende zu bereiten und Medwedjew auf die Probe zu stellen. Er könnte durch eine Aufklärung der Morde zeigen, dass er nicht an Putins Leine hängt und seine Reden, mit denen er sich dem Westen gegenüber als Liberaler profilieren will, nicht nur Sonntagsreden sind.

  • D
    Denis

    Eine gute Möglichkeit mit Moskau Klartext zu reden bietet sich am Freitag für Frau Merkel an, wenn sie mit Medwedjew spricht. Der gibt im Ausland immer den Liberalen, jetzt hätte er einmal die Möglichkeit zu zeigen, dass er nicht nur eine Show abzieht. Es muss von Deutschland aus viel mehr Druck gemacht werden, mit Mördern macht man keine Geschäfte, das stinkt!!