Housing First in Hildesheim: Konzept beschlossen, Geld fehlt
Hildesheim hat 2022 ein Housing-First-Konzept für Wohnungslose beschlossen. Doch das Geld für die Umsetzung müsste vom Land kommen – und das dauert.
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Housing First geht davon aus, dass Wohnen ein Menschenrecht ist. Obdach- und wohnungslose Menschen müssen nicht erst nüchtern, erwerbstätig oder angepasst sein, um eine Wohnung zu bekommen. Stattdessen soll die Wohnung der erste Schritt zu einem stabileren Leben sein.
Vorbild für Housing First ist Finnland. Seit 2008 gilt Wohnen dort als Grundrecht. Seit der Einführung von Housing First hat sich die Zahl der Obdach- und Wohnungslosen dort mehr als halbiert. In Deutschland haben sich Bremen, Berlin und Hannover auf die Fahne geschrieben, ein solches Konzept zu verfolgen – unterstützt vom Dachverband Housing First, der in Berlin sitzt.
Nun will auch Hildesheim das Konzept ausprobieren. In der Gerade-mal-Großstadt leben 25 Personen im Freien, weitere 250 im Stadtgebiet und Umkreis haben keine eigene Wohnung. Es gibt die üblichen Angebote wie Herbergen, einen Tagestreff, Hotlines, Schlafsackspenden im Winter.
Diese Hilfen würden aber bisher fast nur von Männern wahrgenommen, sagt Kathrin Diehe. Sie leitet den Bereich Teilhabe und Prävention der Stadt und sitzt selbst am Telefon der Hotline für wohnungs- und obdachlose Menschen in Hildesheim. Frauen und Mitglieder der LGBTQIA+-Community nutzten die Angebote sehr wenig, sagt sie. Housing First sieht sie als Ansatz, um auch diesen Personen zu helfen.
Das soll in Hildesheim dann so aussehen: Erst einmal will die Stadt das Konzept für drei Jahre testen. Wer keinen festen Wohnsitz hat, könnte sich in der Zeit an die Stadt wenden. Mitarbeiter:innen würden gemeinsam mit den Betroffenen eine Wohnung suchen – ganz normal, über die Wohnungsbaugenossenschaften und private Vermieter:innen. Das habe die Stadt schon mit den Firmen abgesprochen.
Es ist ein Grundprinzip von Housing First, dass obdachlose und wohnungslose Menschen nicht in eigens dafür bereitgestellten Wohnungen leben sollen. Dadurch soll verhindert werden, dass sie wieder von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. „Wir sind sehr stolz auf das Konzept“, sagt Diehe. Und: „Wir stehen in den Startlöchern.“
Aber losgehen kann es nicht. Der Stadtrat hat das Konzept zwar inzwischen ausformuliert, aber das Geld dafür muss vom Land Niedersachsen kommen. Und es ist nicht absehbar, wann und ob der Niedersächsische Landtag beschließt, Housing First im ganzen Land als Strategie einzuführen.
Diehe zeigt sich dennoch zuversichtlich: „Ich glaube, es ist sehr wahrscheinlich, dass es bald durchkommt.“ Nach der Testphase will die Stadt auch die Kapazität ausweiten, weil die geplanten 20 Haushalte den Bedarf nicht abdecken.
Swen Huchatz von der Obdachlosen-Selbsthilfe in Hildesheim, findet das Konzept nicht ausgereift. Er hat selbst 20 Jahre auf der Straße gelebt, in verschiedenen europäischen Ländern, und hat nun seit 2021 eine eigene Wohnung in Hildesheim. Huchatz kritisiert, dass das Konzept der Stadt nicht so inklusiv sei, wie behauptet werde. So müssten interessierte Personen Miete und Kaution selbst aufbringen. Vor allem kritisiert Huchatz aber, dass der Kontakt zur Stadt schwierig sei.
Partizipation als Grundpfeiler
Am Anfang habe er sich bei der Entwicklung des Konzepts einbringen können, nun sei der Kontakt unmöglich. Stattdessen greife die Stadt auf die Träger der Obdachlosenhilfe in der Stadt und den Bundesverband Housing First zurück, obwohl der Stadtrat 2022 beschlossen habe, dass die Meinung der obdachlosen Menschen in Hildesheim einbezogen werden solle.
Statt sich an die obdach- und wohnungslosen Menschen der Stadt zu wenden, werde – mal wieder – über deren Köpfe hinweg entschieden, sagt Huchatz. Auch das widerspreche dem Konzept „Housing First“. Denn Partizipation und Selbstbestimmung gehören zu dessen Grundpfeilern.
Kathrin Diehe wehrt sich gegen die Vorwürfe. Eine offizielle Obdachlosen-Selbstorganisation gebe es in Hildesheim nicht. Swen Huchatz sei in der Vergangenheit gehört worden, er könne weiterhin einfach anrufen, eine Mail schreiben, zu den Sitzungen erscheinen. „Das ist ein demokratischer Prozess, an dem sich gerne alle beteiligen können, die das möchten“, sagt sie.
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