Horror-Romanze „Bones and All“ im Kino: Ein unstillbares Verlangen
„Bones and All“ ist ein blutiges Roadmovie über junge Kannibalen. Trotz verstörender Szenen ist es auch ein Film über eine alles verzehrende Liebe.
Wir „verzehren“ uns nach einander. Etwas weniger elegant ausgedrückt, haben wir uns „zum Fressen gern“, wollen einander „vernaschen“ oder finden uns „zum Anbeißen“. Begehren und Hunger sind in der Sprache der Liebe – ein Phänomen, das bekanntlich „durch den Magen geht“ – erstaunlich eng miteinander verknüpft. Der Autor Senthuran Varatharajah geht in seinem Roman „Rot (Hunger)“ sogar so weit, sie als eine „kannibalische Sprache“ zu bezeichnen.
Ist man sich dieser Verknüpfung einmal bewusst, scheint es gar nicht mehr so abstrus, dass der italienische Regisseur Luca Guadagnino in „Bones and All“ ausgerechnet von einer Romanze zwischen zwei Kannibalen erzählt.
Die Liebenden im Zentrum haben wenig mit den auf fürchterliche Weise nüchternen Beispielen des echten Lebens, wie dem „Kannibalen von Rotenburg“, oder bekannten fiktiven Figuren wie „Hannibal Lecter“, gemein. Wenn überhaupt, erinnern Maren (Taylor Russell) und Lee (Timothée Chalamet) an eine lässig-verlotterte Millennial-Version von „Bonnie und Clyde“. Eine, die allerdings irgendwann in den Achtzigern ihr Unwesen treibt.
Allein zurückgelassen
Bevor sie zueinander finden, konzentriert sich das auf einem Jugendroman von Camille DeAngelis basierende Drehbuch von David Kajganich, der zuletzt für „Suspiria“ mit Luca Guadagnino zusammenarbeitete, allein auf Maren. Ihr Vater (André Holland) lässt sie nach einer weiteren ihrer Hungerattacken, während der sie den Finger einer Mitschülerin verschlang, mit etwas Geld, ihrer Geburtsurkunde und einer Kassette zurück. Darauf beschreibt er ihr die Entwicklung ihrer „Ausrutscher“, auf dass sie selbst daraus schlau werde.
Von da an setzt „Bones and All“ zu einem schaurig-schönen Roadmovie an. Nun vollkommen auf sich allein gestellt, will Maren ihre Mutter ausfindig machen, um mehr über ihre Lust auf Menschenfleisch herauszufinden. Dass sie mit der nicht alleine ist, erfährt sie durch eine Begegnung mit einem gealterten Gleichgesinnten, Sully (Mark Rylance). Menschen wie sie werden als „Eater“ bezeichnet und können verwandte Seelen über einige Entfernung „erriechen“.
„Bones and All“. Regie: Luca Guadagnino. Mit Taylor Russell, Timothée Chalamet u. a. Italien/USA 2022, 131 Min.
Was den kannibalischen Drang auslöst, erklärt der Film nicht. Ebenso wenig ist er als eindeutige Metapher zu erkennen, wobei er sich durchaus als Verweis auf Sucht im Allgemeinen lesen lässt. Dass sich der Kannibale anders als der Vampir nicht recht zum Symbolbild eignet, liegt wahrscheinlich allein schon am Fehlen jeder überwirklichen Komponente. Der Horror, der von ihm ausgeht, ist schlicht zu real. Noch dazu lässt er die anziehende Eleganz vermissen, die den Blutsauger-Mythos am Leben hält.
Familienfotos des Opfers
Wie Anthropophagie aussehen kann, führt „Bones and All“ erstmals vor Augen, wenn Sully seine gerade verstorbene „Beute“ mit Maren teilt und sie gemeinsam ihre Zähne in das Fleisch einer alten Frau bohren, es ihr geradezu von den Knochen reißen. Die Kamera ist besonders effektvoll, wenn sie im nächsten Augenblick wegschwenkt, über die persönlichen Besitztümer des Opfers gleitet, Familienfotos einfängt und so schonungslos die Tragweite des qua seiner Absurdität zunächst fast komisch wirkenden Geschehens ins Gedächtnis ruft.
Grauen und Liebreiz wechseln sich in dieser erstaunlichen Genremischung, zu der sicherlich auch eine Portion „Coming-of-Age“-Flair gehört, kontinuierlich ab. Das gilt insbesondere für die Liebe zwischen Maren und Lee, deren Wege sich kurz darauf kreuzen. Während sie ihrer Veranlagung noch mit großen Skrupeln begegnet, legt er in zerschlissenen Jeans und mit der Andeutung eines pink gelockten Vokuhilas eine abgebrühte Coolness an den Tag. Aufgrund dieser Unterschiedlichkeit ist die Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellern nicht unmittelbar spürbar.
Erst ganz allmählich entsteht während ihrer Odyssee durch US-amerikanische Kleinstädte eine Verbindung. Etwa, wenn sie sich gegenseitig die Geschichte ihres „ersten Mals“ anvertrauen und darüber lachen, dass es sich in beiden Fällen um den Babysitter handelte – wobei es eben nicht um das erste sexuelle Erlebnis, sondern das erste „menschliche Mahl“ geht.
Interesse an Grenzüberschreitungen
Dass Begehren und Hunger später durchaus zu einem einzigen Verlangen verschmelzen, passt zu den wiederkehrenden Motiven in Guadagninos Filmografie, die seit jeher ein Interesse am Erzählen von Sexualität als bittersüße Grenzüberschreitung erkennen lassen. Man erinnere sich an den bedeutenden Altersunterschied zwischen Elio (ebenfalls Chalamant) und Oliver (Armie Hammer) in „Call Me by Your Name“. In „Bones and All“ zeigt sie sich in einer besonders gewaltsamen Szene, in der Lee ein männliches Opfer mit der Hand befriedigt, um ihm just im Moment der Klimax die Kehle aufzuschneiden – und so den kleinen zum ultimativen Tod werden lässt.
Der knapp über zweistündige Film setzt sich aus vielen derartigen Begegnungen zusammen, wobei sich „Bones and All“ – auch das ist man vom Regisseur gewohnt – mitunter ein wenig zu lange an wunderschönen Einstellungen ergötzt, anstatt die Handlung voranzubringen. Diese, trotz allem, ästhetisch bestechenden Bilder sind es, zusammen mit der konträr zu den Ereignissen melancholisch-zarten Musik von Trent Reznor und Atticus Ross, die den Film niemals gänzlich in Horror abgleiten lassen.
So stellt sich selbst das kraftvolle, wenn auch etwas forciert wirkende Finale mehr als kompromissloser Akt der Leidenschaft denn als Schreckensszenario dar. Für Guadagnino bestünde ein solches wahrscheinlich ohnehin viel mehr im allzu Angemessenen und Anständigen. Ob man in „Bones and All“ am Ende mehr sehen kann, als ein auf charmante Weise provokantes Gedankenspiel über die wortwörtlich alles verzehrende Liebe, sei dahingestellt. Aber das ist für sich genommen ja schon ganz schön viel.
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