Hommage an Rolf Dieter Brinkmann: Der Wortvandale
Sehen, hören, riechen, tasten, schmecken, schreiben: Rolf Dieter Brinkmann war der erste deutsche Pop-Autor. Nun wäre er 75 Jahre alt geworden.
Mag sein, dass er bis heute das ist, was er zu Lebzeiten bereits war: Ein Außenseiter. Ein Sonderling. Ein Eckensteher. Einer, der sich fatalistisch, fast zwanghaft in eine solche Position katapultierte, würden die einen sagen; einer, der unbedingt und mit Furor das literarische Schreiben im deutschsprachigen Raum revolutionieren wollte und nicht anders konnte, als zum Wortvandalen zu werden, die anderen. In jeder Verneigung vor ihm steckte dabei auch ein wenig Abscheu. Und in jeder Verachtung auch ein bisschen Bewunderung.
Rolf Dieter Brinkmann, der am 16. April 1940 im niedersächsischen Vechta geboren wurde und am 23. April 1975 in London von einem Bus überfahren wurde und starb, gilt den meisten noch heute als literarischer Provokateur, dessen Schriften als Hasspamphlete auf die bundesrepublikanische Gesellschaft gelesen werden und der durch seinen Habitus die (bildungs-)bürgerliche Kultur zu schocken suchte.
Man sieht in ihm den ersten deutschen Pop-Autor: Brinkmann adaptierte die literarischen Techniken der Beat Generation und die Sujets der US-amerikanischen Popkultur in den späten Sechzigern für den deutschsprachigen Raum – und entwickelte daraus seine Schreibhaltung. Will man sich der Person, dem Dichter Rolf Dieter Brinkmann nähern, so trifft man vielleicht zunächst auf ein „leibhaftiges Rätsel“, wie ihn einst ein Kritiker nannte, oder auf ein „Ich, das quer liegt zur Welt“, wie Peter Handke es sehr treffend beschrieb.
In jedem Fall hat man es mit einem unbequemen Autor, einem schwierigen Menschen zu tun, der „nichts neben sich duldete“, wie der Schriftsteller Dieter Wellershoff, ein früher Verleger und Weggefährte Brinkmanns, es kürzlich in einem Telefongespräch ausdrückte. Aber, so sagte Wellershoff eben auch: „Einer, der sehr viel Leidenschaft entwickeln konnte. Mit Brinkmann kam eine neuer Ton in die deutschsprachige Literatur.“
„Fuck You!“
Brinkmann, der nach seinem Aufwachsen in der norddeutschen Einöde eine Buchhändlerlehre absolviert und während des Studiums an der Pädagogischen Hochschule in Köln Anfang der Sechziger mit dem Schreiben beginnt, veröffentlicht zunächst Gedichte und Erzählungen. Sein erster Roman, „Keiner weiß mehr“, erscheint 1968.
Bis heute erscheint er den meisten als sperrig, kaum lesbar – inspiriert ist er vom Nouveau Roman und dem wichtigsten Vertreter dieser Schule, dem französischen Autor Alain Robbe-Grillet. Dieser Einfluss bleibt prägend. Es geht Brinkmann um die dichte Beschreibung des Wahrgenommenen.
Die Lebendigkeit, das Alltagsnahe, das Experimentierfreudige sind, was ihn am US-Underground der späten Beat Generation reizt. „Brinkmann ist total drauf abgefahren“, sagt der damalige Buchhändler und Lektor Ralf-Rainer Rygulla, mit dem Brinkmann die Anthologien „Fuck You!“ und „ACID“ herausgab. Beide Bücher erreichten Kultstatus – die Gedichte, Essays, Comics und Interviews der US-amerikanischen Autoren, die von psychedelischen Drogen, vom Rock ’n’ Roll, vom Masturbieren, Vögeln und Eierschaukeln handelten, erschienen um 1968 und trafen einen Nerv.
„Alles konnte plötzlich Stoff für ein Gedicht sein“, sagt der heute 71-jährige Rygulla, den ich via Skype spreche, „vor allem erinnere ich mich an diesen wunderbaren Frank O’Hara, der Gedichte über Zigaretten und Kaffeetrinken geschrieben hat“. O’Hara und die damalige New York School begeisterten auch Brinkmann: In „Westwärts 1 & 2“, seinem wohl bekanntestem Gedichtband, ist der amerikanische Einfluss Programm. Er erschien wenige Wochen nach seinem Tod und verkaufte sich schnell fünfstellig.
„Sinnlich-unverfälschtes, 'dreckiges' Gesicht“
Dass er die in Amerika entstandenen Techniken, zu denen auch Cut-up (William S. Burroughs) oder Spontaneous Prose (Jack Kerouac) gehörten, für sein eigenes Schreiben lediglich übernahm, war eine oft vernommene Kritik. Man wird Brinkmann aber nicht gerecht, wenn man ihn nur auf Pop- und Beatnikimport, auf eine Poetik des Hasses und auf die Provokationen innerhalb des Literaturbetriebs beschränkt – berühmt bleibt bis heute seine Drohung bei einer Literaturveranstaltung gegenüber Marcel Reich-Ranicki im Jahre 1968: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen“, soll er gesagt haben.
Denn selbst Reich-Ranicki, obgleich er als Person von Brinkmann angewidert war, sah eine besondere Qualität des Autors: „Er kann sehen und hören und riechen und tasten und schmecken. Und das scheint mir – ich scherze mitnichten – sehr viel zu sein, heute zumal.“
Brinkmann wollte die ungefilterte Wirklichkeit darstellen, einen unvermittelten, ersten Eindruck der Dinge wiedererlangen und sprachlich formulieren. „Der Versuch eines sinnlichen Realismus jenseits der Allgemeinbegriffe“, wie der ehemalige taz-Musikredakteur und heutige Zeit-Autor Thomas Groß es Anfang der Neunziger in seiner Dissertation über Brinkmann schrieb. Dieser wolle das „sinnlich-unverfälschte, 'dreckige' Gesicht“ der Welt zeigen.
In der genresprengenden Briefroman-Collage „Rom, Blicke“ ist das gut nachzulesen – jedes Erleben, jede Regung, jedes Gefühl wird da als durch Kulturindustrien, Gesellschaft und Medien bereits vorvermittelte(s) dargestellt. „Rom, Blicke“, 1979 aus dem Nachlass erschienen, wurde als Abgesang auf die Massenkultur, auf das tote „abendländische Bewußtsein“ (Brinkmann) und auf das alte Europa rezipiert. Der Band enthält Briefe und Postkarten, die Brinkmann während seiner Zeit als Stipendiat in der Villa Massimo in Rom an Freunde, Kollegen und seine Frau schreibt.
Der Muff, die Enge
„Ist Dir schon mal aufgefallen, wie irrsinnig zerstückelt die Gegenwart ist, wenn man einen Augenblick auseinandernimmt in seine einzelnen Bestandteile und sie dann neu zusammenfügt?“, fragt er in einem Brief an sie. Genauso las sich seine Literatur – er versuchte sie so assoziativ wie die Wahrnehmung der Realität zu machen. Seine Sprache, oft endloser Stream of Consciousness, wirkt daher fulminant, sorgt für anregende Überforderung. In „Westwärts 1 & 2“ etwa stellt er das Nebeneinander der Eindrücke dar, indem er die Gedichte mehrspaltig nebeneinandersetzt (später experimentiert er mit Tonbändern, dem Super-8-Filmformat und Collagen).
Wollte Brinkmann den Literaturbetrieb aufmischen? „Die Zeit war jedenfalls reif für Brinkmann“, sagt Ralf-Rainer Rygulla heute. „Schön zu schreiben ist ja etwa heute wieder ganz aktuell, sowas hat uns natürlich nicht interessiert. Als Reaktion auf die damalige Literatur hat Brinkmann sich zeitweise bemüht, so kunstlos wie möglich zu schreiben“, sagt er.
Aber es sind mindestens in ebenso großem Maße die biografischen Prägungen, die Brinkmann so „hässlich“ schreiben ließen. Mehr noch als Krieg und Wiederaufbau klingt bei Brinkmann fast durchgängig das Aufwachsen in einer kleinstädtischen, technokratischen, zutiefst biederen Umgebung durch. Der Muff, die Enge spiegeln sich in den Beschreibungen seiner Wohnorte Vechta und Köln, in den Schilderungen seiner Beziehungen und seines Familienlebens wider.
Es ist etwas stets streng Durchreguliertes, etwas Gleichförmiges, das bei ihm gleichsam physiologisch wird: „Das Leben in einer Stadt ist mit einer irrwitzigen, derwischhaften Ordnung geregelt, bis in die Nervenzellen, bis in den Stoffwechsel hinein“, schreibt er zum Beispiel in „Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten 1974/75“.
Die mediale Verwertung des Augenblicks
Dazu kommt die Armut, in der Brinkmann mit Frau Maleen und dem Sohn Robert, der eine geistige Behinderung hat, lebt. Brinkmann hat als schlecht verdienender Autor eigentlich ständig Geldsorgen. Aber er hat alles andere immer der Literatur untergeordnet. „Brinkmann als Person hat mich fasziniert, ich kannte keinen vor und nach ihm, der sich ausschließlich und einzig als Dichter verstanden hat“, so Ralf-Rainer Rygulla. „Er hatte ja fast eine Art Schreibzwang, für ihn war Literatur gleichermaßen Lebenskonzept und Lebensbewältigung.“
Rygullas persönliche Geschichte legt nahe, dass die literarische Revolution nicht lange andauerte. Er zerwarf sich 1971 mit Brinkmann und verabschiedete sich wenig später aus der Literaturszene: „Für mich war die Sache dann gegessen.“ Man sei draußen gewesen, wenn man sich in der Literatur der Siebziger nicht ideologisch und politisch positioniert hätte, sagt der ehemalige Lektor des Rowohlt Verlags. „Und das war natürlich nicht unser Ding.“
Die meiste Anerkennung für sein Gesamtwerk erhielt Brinkmann seit Mitte der Achtziger von Seiten der Popkultur und Popkulturkritik. Heute ist Brinkmann ein geschätzter Außenseiter in der Literatur, wird akademisch gern behandelt, Schullektüre wird er wohl leider nie. Seine Kritiker bewerten insbesondere die im Nachlass erschienen Materialsammlungen als Chaos, seine Ästhetik als permanentes Scheitern am Stoff.
Dabei ist sein Gesamtwerk noch lange nicht erschlossen. Insbesondere Biografisches und Teile seines Werks wird man erst bewerten können, wenn Brinkmanns gesamte Materialien zugänglich sind, bestätigt Markus Fauser, Leiter der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann an der Universität Vechta. Maleen Brinkmann sei noch im Besitz unveröffentlichter Arbeiten, für die sie alle Rechte habe und die sie zum Teil zurückhalte, sagt er.
Brinkmann ist als Poet, dessen großes Thema Entfremdungserfahrungen, die Wahrnehmung und das Bewusstsein waren, noch immer aktuell: Die Mediatisierung ist vorangeschritten; die Erfahrungen sind noch weniger als zu Brinkmanns Zeiten unmittelbare. Mehr noch: Die mediale Verwertung des Augenblicks muss heute stets mitgedacht werden, erst das Selfie dient dazu, uns unserer selbst zu versichern. Und auch sein Strampeln und Schlagen „gegen die Subjektverdrängung“ (Handke), gegen die Verdinglichung und den Verlust natürlicher Lebenswelten spiegelt stets aktuelle menschliche Grundkonflikte oder fortlaufende Prozesse.
Am Donnerstag wäre der tolle Dichter Rolf Dieter Brinkmann 75 Jahre alt geworden.
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