Holodomor, die Hungersnot in Kasachstan: Der Irrsinn des Hungers
Die Hungersnot von 1932/1933 in Kasachstan hinterließ ein Trauma. In der Region sind sich die Menschen einig, ob man sie „Genozid“ nennen soll.
Was kann schlimmer sein als Hunger? Stellen Sie sich vor, dass Ihre ganze Familie von zwei Kühen und zehn Hühnern ernährt wird. Dank dieser Tiere haben Sie Fleisch, Milch und Eier: Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. Und jetzt stellen Sie sich vor, dass man Ihnen das alles einfach wegnimmt. Was bedeutet: kein Frühstück mehr, kein Mittagessen und auch kein Abendbrot.
Der 31. Mai ist in Kasachstan Tag der politischen Massenrepressionen der Jahre 1932/1933 und der schrecklichen Hungersnot, während der, unterschiedlichen Angaben zufolge, allein hier zwischen einer und zwei Millionen Menschen umkamen. Aber unter den Repressionen litten nicht nur die Menschen in Kasachstan, sondern auch in anderen Republiken des ehemaligen sowjetischen Blocks, in dem infolge der sowjetischen Regierungspolitik die Menschen verhungerten – oder ihren gesamten Besitz verkauften, um auf der Suche nach Nahrung überhaupt fortgehen zu können.
Auch meine Urgroßmutter ist damals gegangen, die Mutter meines Großvaters mütterlicherseits. Mit ihrer Familie hat sie die Stadt Semei im Osten Kasachstans verlassen und ist nach Jessik im Süden des Landes gezogen. In Semei wütete der Hunger, die Menschen aßen einander auf. Also gingen sie – zu Fuß. 1.350 Kilometer durch Steppen und Flüsse. Sie dachten, im Süden würde es Getreide geben und Brot. Ihr Brot haben sie dort gefunden. Ihre Nachkommen leben dort bis heute.
Meine Großmutter väterlicherseits wurde durch den schrecklichen Hunger von ihrer Familie getrennt. Um zu überleben, gab man sie zu reichen Tataren. Dort wurde sie großherzig aufgenommen, man gab ihr zu essen und zog sie auf. Die Nachkommen beider Familien stehen bis heute in freundschaftlichem Kontakt. In jeder kasachischen Familie gibt es vermutlich solche oder ähnliche Geschichten. Der Holodomor bzw. der Ascharschylyk, wie die Hungersnot in Kasachstan genannt wird, ist das psychologische Trauma des ganzen Volkes, für das bislang niemand die Verantwortung übernommen hat. Bis heute versuchen viele Menschen, ihren Schmerz künstlerisch zu verarbeiten.
geb. 1994. Lebt und arbeitet in der Stadt Semei, früher Semipalatinsk (Kasachstan). Journalistin, Wirtschafts- und Daten-Analystin. Arbeitet als freie Korrespondentin für den kasachischen Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty.
Geschichte mündlich von Generation zu Generation erzählt
Unterstützen Sie die taz Panter Stiftung und ihre Projekte in Osteuropa mit einer Spende. Mehr erfahren
Für mich ist es schwer, die Geschichte meiner eigenen Familie zu rekonstruieren. Wie sie überhaupt überlebt haben auf ihrem Weg durch Flüsse und Steppen, woran sie dabei dachten, wovon sie träumten. Alle diese Menschen leben nicht mehr, geblieben sind nur ein paar rudimentäre Erinnerungen. Aber es gibt auch Familien, die diese Geschichten detailliert mündlich von Generation zu Generation weitergegeben haben.
Die Geschichte einer solchen Familie hat 2017 die Journalistin Gulnar Tankajewa erzählt. In der Familie starben nacheinander drei Kinder an Hunger, das jüngste wurde nur drei Jahre alt. Die Mutter war so geschwächt, dass sie sich nicht einmal mehr an ihre eigenen Gefühle erinnern konnte.
„Das ist der Irrsinn. Der Irrsinn des Hungers. Er hat meine Oma, die Mutter meiner Mutter, und ihre Schwestern dazu gebracht, das Kind der Nachbarn zu essen. Ein kleines Mädchen. Sie haben sie gestohlen. Meine Mama erzählt, sie sei davon aufgewacht, dass man ihr mit einem Löffel heiße Brühe einflößte … Ihre Mutter, meine Oma, verlor kurz vor ihrem Tod den Verstand. Jedes Kleinkind nannte sie … Vielleicht sage ich besser nicht, wie dieses Mädchen hieß. Allerdings rief meine Oma jedes Mädchen in unserer Familie bei diesem Namen. Mich übrigens auch“, sagt eine der Protagonistinnen des Artikels, eine Künstlerin namens Alia.
Die Leute fragen oft: Wem soll man jetzt die Schuld an all dem geben? Die damaligen politischen Machthaber gibt es schon längst nicht mehr, Verstorbene holt man nicht zurück. Und wir sind nicht allein mit unserem Leid. Durch diese organisierten Hungersnöte starben Menschen in der Ukraine, in Kasachstan, im Kaukasus, in der russischen Schwarzerde-Region, im Wolgagebiet, in Sibirien und auch in den Teilen Russlands, wo diejenigen lebten, die die Beschlagnahmung von Vieh und Getreide befohlen hatten.
Das Vieh nahm man manchmal aus Boshaftigkeit mit. Die beschlagnahmten Rinder wurden sofort getötet, weil man so viele Tiere gar nicht auf einmal hätte versorgen können. Viele Menschen aber waren auch von der Politik der Enteignungen, von Beschlagnahmung des Eigentums und von Vertreibungen betroffen. Auch einige meiner Verwandten wurden ihres Eigentums beraubt und nach Sibirien deportiert.
Die Genozid-Frage ist in diesen Ländern längst geklärt
Diskussionen, ob man diese Ereignisse Genozid nennen könne und solle, reißen nicht ab. In den betroffenen Ländern ist man sich in dieser Frage längst einig. Viele möchten, dass der Holodomor als Genozid bezeichnet wird. Viele Opfer? Eindeutig ja. Millionen tragischer Geschichten? Gibt es. Schmerz durch ein Gefühl der Ungerechtigkeit: vorhanden. Eine Form von Anerkennung der riesigen Narbe, die in den Ländern des ehemaligen Sowjetblocks hinterlassen wurde? Fehlanzeige.
Manche Menschen sagen auch, ein Genozid sei die bewusste Ausrottung einer bestimmten Nation, während im Holodomor die Machthaber einfach alle niedermähten. Deshalb schlagen sie einen anderen Begriff vor, der im Russischen noch nicht weit verbreitet ist. Ich selbst habe ihn erst vor Kurzem zum ersten Mal gehört: „Soziozid“, die soziale Vernichtung einer gesellschaftlichen Schicht oder Klasse. Wie dem auch sei, eins ist klar: Für unsere Gesellschaft ist es wichtig, dass die Verbrechen der sowjetischen Machthaber an der Bevölkerung der Länder der Ex-Sowjetunion durch die internationale Gemeinschaft anerkannt werden.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin