Holocaust-Überlebende in Israel: Jeder Vierte unter der Armutsgrenze
Weniger als 712 Euro im Monat: Rund 45.000 Holocaust-Opfer in Israel leben in Armut. Sie müssen an Lebensmitteln und Medikamenten sparen.
JERUSALEM afp | Jeder vierte der in Israel wohnenden Holocaust-Überlebenden fristet sein Dasein unterhalb der Armutsgrenze. Dies belegt der Jahresbericht der Wohlfahrtsstiftung für die Holocaust-Überlebenden (FBHV), der vor dem israelischen Tag des Gedenkens an die Opfer der Shoah und des jüdischen Widerstands am Donnerstag veröffentlicht wurde. Weitere aus diesem Anlass veröffentlichte Studien behandeln die Vererbung von Existenzängsten und den globalen Wiederanstieg antisemitischer Gewaltakte.
Laut FBHV-Erhebung haben haben 45.000 der insgesamt noch 189.000 Überlebenden in Israel monatlich weniger als die 3000 Schekel (712 Euro) zur Verfügung, die als Armutsgrenze definiert wurden. „Wir haben nur noch die kommenden fünf Jahre, um allen Überlebenden der Shoah ein Altern in Würde zu ermöglichen“, mahnte Stiftungspräsident Avi Dichter.
Der Altersdurchschnitt der Betroffenen, zu zwei Dritteln Frauen, liegt aktuell bei 83,3 Jahren, wie aus dem Jahresbericht hervorgeht. Gegenwärtig sterben jährlich fast 15.000 Überlebende des Holocaust.
Die hohe Armutsrate unter ihnen ist dem Umstand geschuldet, dass viele als einzige aus ihrer Familie den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten entkamen und sie in Israel oft ganz auf sich alleine gestellt waren. Der diesjährige Bericht zeigt auf, dass sich ihre Lage in den vergangenen zwölf Monaten weiter verschlechtert hat.
Vererbtes Trauma
39 Prozent der Befragten sagten, ihre Finanzmittel reichten nicht bis zum Monatsende – im Vorjahreszeitraum hatten dies noch 31 Prozent angegeben. 30 Prozent der Holocaust-Überlebenden (zuvor 19 Prozent) lassen aus Geldnot Mahlzeiten aus, und 25 Prozent (zuvor 17 Prozent) müssen bei Medikamenten und Arztbesuchen sparen.
Laut einer anderen Studie neigen die Kinder von Holocaust-Überlebenden dazu, stärker als ihre Altersgenossen grundsätzliche Existenzängste zu entwickeln. Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete am Mittwoch von dieser kürzlich in der US-Fachzeitschrift Psychological Trauma veröffentlichten Studie des Trauma-Experten Amit Schrira von der Bar-Ilan-Universität bei Tel Aviv.
Demnach sehen die Nachkommen von Überlebenden der Judenverfolgung durch die Nazis „ihr Leben gefährdeter und die Welt eher als bedrohlichen Ort an“ als Gleichaltrige – beispielsweise haben sie deutlich größere Sorgen angesichts des iranischen Atomprogramms.
Anstieg antisemitischer Straftaten
Im vergangenen Jahr wurden weltweit 766 antisemitisch motivierte Gewaltakte bekannt, was einen Anstieg um 38 Prozent gegenüber 554 im Jahr 2013 registrierten vergleichbaren Taten bedeutet. Dies geht aus dem aktuellen Report des Kantor-Zentrums der Universität Tel Aviv hervor, der jährlich angesichts des Holocaust-Gedenktags veröffentlicht wird. In den letzten zehn Jahren ereigneten sich laut dieser Studie nur 2009 mehr antisemitische Gewaltakte. Die Zahl bewaffneter Angriffe habe sich mit 68 Fällen gegenüber 2013 sogar verdoppelt, teilte Uni-Sprecherin Orna Cohen am Mittwoch mit.
Die höchste Zahl antisemitischer Gewaltakte wurde wie in den Vorjahren in Frankreich registriert (164 gegenüber im Vorjahr 141). Den in absoluten Zahlen stärksten Anstieg verzeichnete das Kantor-Institut in Großbritannien (141 zu 95). In Deutschland verdoppelten sich demnach die bekannt gewordenen Fälle von 36 auf nunmehr 76. In Österreich wurden neun Taten registriert (gegenüber vier in 2013).
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump, Putin und Europa
Dies ist unser Krieg
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Bundestagswahl für Deutsche im Ausland
Die Wahl muss wohl nicht wiederholt werden
Bundesregierung und Trump
Transatlantische Freundschaft adé
Gedenken an Hanau-Anschlag
SPD, CDU und FDP schikanieren Terror-Betroffene
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab