Holocaust-Gedenken: Appellierende Reize
In absehbarer Zeit wird es keine noch lebenden Opfer des Nationalsozialismus mehr geben. Wie wichtig sind Zeitzeugen für das Gedenken und warum?
Z unehmend sollen in der niedersächsischen Gedenkstätte Bergen-Belsen provokante Fragen gestellt werden, in diesem Falle war von einer Schulklasse die Rede, und auch sonst kommt Ähnliches vor, in der ganzen Bundesrepublik. Wie kann das sein und was ist das für eine Entwicklung?
Am Montag waren auf allen Nachrichtenportalen zu Skeletten abgemagerte Menschen zu sehen, anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus. Bilder von Überlebenden wurden in den Zeitungen abgedruckt, unermüdlich berichten sie von dem, was sie erlebt haben. Viele fürchten sich davor, dass es sie bald nicht mehr geben wird. Und darüber musste ich schon oft nachdenken. Wie wichtig sind Zeitzeugen und warum? Ist die Tatsache, dass sie es wirklich erlebt haben, mit ihren eigenen Augen gesehen, für uns so wichtig, für unser eigenes Verständnis, gar für unseren Glauben an diese Dinge?
Es gibt ja mittlerweile eine umfassende, wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Verbrechen, es gibt Film- und Fotomaterial, es gibt Gedenkstätten, deren ausschließliche Aufgabe darin besteht, ihre eigene Geschichte öffentlich zu machen, es gibt Forschungsaufträge, Dokumentationen, Habilitationen, aber nichts scheint die Zeitzeugen ersetzen zu können. Woran liegt das? Und ist das überhaupt so? Sind wir nicht in der Lage, zu abstrahieren, brauchen wir, um urteilen zu können, um Sachverhalte moralisch einordnen zu können, wirklich jemanden, der uns die Umstände dieser Sachlage anhand der eigenen Biografie illustriert?
Oder wird in dieser Angst vor der Zukunft ohne Zeitzeugen nur ganz allgemein die Angst vor der schwindenden Kraft des (Ab-)Schreckens deutlich, aber die fehlenden Zeitzeugen sind gar nicht der Grund, sondern eine Gesellschaft, die von diesen Zeitzeugen sowieso nichts mehr wissen will?
ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Insbesondere den Kindern, den Jugendlichen möchte man immer eine anschauliche, eine detaillierte, empathische Vorstellung geben. Eine Annäherung an das eigentlich Unvorstellbare, in Form eines einzelnen Schicksales, in Form einer Geschichte, einer Erzählung.
Ich kann das verstehen. Wir brauchen Erzählungen, um uns einfühlen zu können, wir brauchen die Details, um uns etwas vorstellen zu können. Wir brauchen Farben, Gerüche, Geräusche, die Stofflichkeit der Dinge, und eben aus diesem Grund gibt es ja auch Gedenkstätten, in denen das Leben und Sterben in den Lagern auch sinnlich erfahrbar gemacht werden soll, nebst den Zahlen und Fakten. So können wir vielleicht einen Hauch des Grauens spüren. Der Rest bleibt abstrakt, und das Abstrakte führt die meisten Menschen nirgendwo hin.
Aber es ist vielleicht auch gefährlich, wenn unsere Entscheidungen zu sehr auf Gefühlen fußen, Urteile aufgrund unserer unmittelbaren Regungen getroffen werden. Auch bei nüchterner Betrachtung der Dinge, und diese Herangehensweise käme, in der Zukunft, auch ohne Zeugen aus: In keiner vorstellbar lebenswerten, menschenwürdigen Welt sind die Verbrechen, die in diesen Lagern geschehen sind, auch nur in Ansätzen rechtfertigbar. Es brauchte keine Gefühle, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen – wenn wir in unserer Gesellschaft Wert auf eine umfassende humanistische, moralische Bildung legen würden, wenn unsere Gesellschaft aus reifen, vernünftigen Menschen bestünde.
Aber unsere Gesellschaft ist beruflich spezialisiert und moralisch-philosophisch verkümmert. Die Menschen brauchen immer wieder simple, an das Mitgefühl appellierende Reize, wie Kinder, in denen das Mitgefühl erst geweckt werden muss. Auf diese Weise sind sie aber auch leicht zu manipulieren, durch ein Bild, eine Schlagzeile, eine Lüge. Alles, was ihr leider dummes Herz erreicht, treibt sie in eine Richtung. Handeln müssen wir aber kühl, mit unserem Verstand, handeln muss die Vernunft. Und Menschen, die sich in Gedenkstätten respektlos benehmen, müssen hinausgeworfen werden, damit der gesellschaftliche Anstand, als Wert an sich, geschützt wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit